Donaueschinger Musiktage 2005 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2005: "fibrae"

Stand
Autor/in
Valerio Sannicandro
Übersetzung
Lydia Jeschke (aus dem Italienischen)
Lydia Jeschke

Während der letzten drei Jahre hatte meine Beschäftigung mit musikalischer Technologie als direkteste Konsequenz – noch vor dem eigentlich "klanglichen" Einfluss auf die Beschaffenheit meiner jüngsten Werke – eine ebenso radikale wie substanzielle Reflexion der grundlegenden Parameter musikalischer Komposition.

Im Fall von "fibrae" ist es unmöglich, das eine vom anderen zu unterscheiden und die konstitutiven Aspekte oder Prinzipien getrennt zu behandeln; sobald man vom Konzept des "Raums" spricht, heißt es, in die Behandlung der Elektronik in Echtzeit einzusteigen, und von dort wiederum in die Beschaffenheit der harmonischen Struktur.

Die grundlegende Reflexion, die das gesamte Werk prägt, besteht im Wiedererschaffen einer Harmonie, die sowohl von den empirischen, als auch von den abstrakten Prinzipien weit entfernt ist. Folglich geht es um eine Harmonie, die aus einem Netz von Beziehungen, Proportionen und Symmetrien (einfachen und interpolierten) entsteht, aus "Brennpunkten" und "Zentren" (architektonisch gesprochen), die ausschließlich auf akustischen Kriterien und Maßgaben beruhen. Die Analyse von komplexen Klängen führt zu Proportionen, die sich vom Ausgangsklang entfernen, indem sie nicht nur die akustischen Gegebenheiten erkunden und entwickeln, sondern auch deren "geometrische" Beschaffenheit.

Wenn diese Überlegungen auf eine Begegnung mit der Architektur zusteuern, insbesondere auf die Begegnung mit einem in strengen Proportionen konstruierten harmonischen Raum, so unterstreicht die Verwendung der Elektronik das harmonische Fortschreiten im musikalischen Diskurs und verwandelt in einer internen Interaktion den Klang der Instrumente in eine Art Resonanzraum, "gestimmt" nach dem spezifischen harmonischen Umfeld.

Dies ist ein Aspekt der "impliziten" Beschaffenheit der kompositorischen Struktur; zugleich aber simuliert die Verräumlichung im Grunde genommen Flugbahnen von verschiedenen und komplexen akustischen Reflexionen.
Diese Reflexionen führen allerdings nicht stark aus dem Orchesterapparat heraus (der zum größten Teil frontal platziert ist): Es gibt zwar Momente, in denen die elektronischen Klänge aus dramaturgischen und akustischen Gründen den Raum der Instrumente verlassen, aber in der Regel simulieren die Lautsprecher im Saal (eine "punktuelle" Verräumlichung mit einem Effekt, den ich "verschwiegenen Raum" oder "sampled space" nenne) ein Netz von Echos aus exakten und wiederkehrenden geometrischen Bahnen.

Dieser Aspekt in der Verwendung der Elektronik und der Aufstellung der Lautsprecher an der Außenbahn des Saales ist grundlegend für die Integration der Instrumente auf der Bühne und dafür, dass die Verräumlichung der Klänge ihre Quelle nicht überdeckt. Er leitet auch die Synthese der elektronischen Klänge und sorgt dafür, dass sie sich in verschiedenen klangfarblichen Abstufungen mit den akustischen Instrumenten mischen.

Die teilweise Dezentralisierung des Orchesters schließlich – zwei Hörner, die Soloposaune und zwei Schlagzeuger befinden sich im Saal – entspricht der Orchesterpartitur, die insgesamt die Tendenz hat, die Klänge gleichsam "synthetisch" in Bewegung zu halten (auch im in der Mitte postierten Hauptkorpus findet Verräumlichung statt, indem ein schneller Wechsel der Instrumental-"Zonen" Effekte von Annäherung und Entfernung der Klänge erzielt) und dann Resonanzen zu erzeugen, die sich von ihren Klangquellen lösen und Zonen, Umgebungen im architektonischen Raum beschreiben.

Nul astre d´ailleurs, nulls vestiges
De soleil, meme au bas du ciel,

Et sur ces mouvantes merveilles
Planait

Un silence d´éternité

(C. Baudelaire)