Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "The Ecstasy of St. Theresa"

Stand
Autor/in
Gerard Pape
Übersetzung
Lydia Jeschke (aus dem Amerikanischen)
Lydia Jeschke

Während ich bei verschiedenen Gelegenheiten durch Rom fuhr, hatte ich immer wieder Schwierigkeiten, die Kirche Santa Maria della Vittoria offen vorzufinden, wo ich Berninis großartiges Meisterwerk "Die Ekstase der Heiligen Theresa" im Original sehen wollte. Als ich es endlich sehen konnte, war ich total verzaubert. Die fließenden Eigenarten der Skulptur gepaart mit dem schönen Licht, das auf sie fiel, vermittelten den Eindruck eines lebendigen dreidimensionalen marmornen Organismus. Noch glücklicher war ich darüber, unterhalb der Skulptur den genauen Text aus der Autobiografie der Heiligen Theresa zu finden, der Berninis Arbeit inspirierte.

In Anlehnung an den Prosatext der Heiligen Theresa schrieb ich einen poetischen Text für meine neue Arbeit für neun Sänger und Live-Elektronik.

"The Ecstasy of St. Theresa" (Homage to Bernini)

I saw an angel,
Small, extremely beautiful,
Cherubim most high.
His face aflame,
Burning with love.

Holding a long golden dart
With iron tip, point of flame,
The angel plunged it
Through my heart
Right to my entrails,
Time and again.

Each time the fiery dart pulled out,
My entrails pulled with it, too.
The angel set my soul aflame,
Burning with love.

Pain so strong,
I couldn't help but moan.
Incomparable torment.
Pleasure so great,
I didn't want it to end.

So beside myself,
No wish to see or speak,
Savor torment.

Ravished soul
Plunged into ecstasy,
No time for pain,
No time to suffer.

Immediate rapture.

[Gerard Pape (Paris, 27/12/00)
(nach dem Originaltext der Heiligen Theresa von Avila aus dem Jahr 1562)]

In meiner kompositorischen Herangehensweise ist die kontinuierliche Transformation aller Aspekte des Klangs grundlegend.

Vokale Klänge

Es gibt drei Basistypen der vokalen Klänge, die in diesem Stück als Mittel der Klangtransformation verwendet werden:

a) "Sonic speech" (Klang-Sprache) – nicht zu verwechseln mit Schönbergs "Sprechgesang", der auch verwendet wird und den ich mit "speechsung" bezeichne. "Sonic speech" ist ein gesprochener Typus der vokalen Klänge, der sich kontinuierlich in allen klanglichen Parametern (Frequenz, Intensität und Klangfarbe) verändert; auf diese Weise wird daraus eine besondere musikalische Variante der normalen Sprache. Diese "Sonic speech" ist genau rhythmisch notiert, was sie auch von der Rezitation unterscheidet.

b) Mit "speechsung" wird hier die klassische Schönbergsche Technik adaptiert, wobei die kontinuierliche Veränderung der Klangfarbe hinzukommt, zusätzlich zu den präzisen Angaben der Tonhöhe, der Intensität und des Rhythmus, die schon Schönberg verwandte.

c) Im Fall des mit "sung" bezeichneten Typus werden klassische Gesangstechniken durch kontinuierliche Mikro-Variationen der Klangfarbe, Tonhöhe und Intensität erweitert, alle ohne Vibrato zu singen, wenn es nicht anders vorgeschrieben ist.

Steht ein Glissando oder ein Legatobogen über zwei Noten, die zwei oder mehreren verschiedenen Basistypen angehören, sollte ein Klangfarben-Glissando zwischen ihnen entstehen, das zum Beispiel eine kontinuierliche Transformation von "sonic speech" zu "speechsung" zu "sung" realisiert.

Klangfarbentypen

Es gibt 16 verschiedene Klangfarbentypen, die im folgenden kurz beschrieben werden. Die Beschreibungen sind als Annäherungen zu verstehen, und die Klangfarben werden von Interpret zu Interpret variieren.

1) Fließend, luftig – eine Klangfarbe, die nur eine minimale harmonische Fülle hat, ähnlich einem Knabensopran, mit etwas Ton und viel Atemhauch.

2) Hauchig – eine Klangfarbe mit etwas Ton und viel Atemgeräusch.

3) Flüstern – eine Klangfarbe mit etwas Ton und viel Flüstergeräusch.

4) Keuchen – eine Klangfarbe, die man erzeugt, indem man buchstäblich nach Luft ringt, während man vokal einen anderen Klang produziert.

5) Reich und satt – eine Klangfarbe mit reichen, multiplen Obertönen, die sich dem Geräusch annähert, es aber nicht erreicht.

6) Feurig, intensiv – eine Klangfarbe mit viel Intensität, große Energie, die gerade noch zusammengehalten wird; diese Klangfarbe ist geräuschhaft wie der Klang des Feuers.

7) Ekstatisch – die erhabenste aller Klangfarben, der Klang von Theresas Ekstase selbst; der Klang enthält in sich eine Kombination von extremem körperlichem Wohlbefinden, aber ohne den leisesten Hinweis auf sexuelle Lust im üblichen Sinne – es ist kein "orgasmischer" Klang, sondern der wortlose Klang, den ein Wesen erzeugt, das sein spirituelles Ziel erreicht hat: die Vereinigung mit Gott.

8) Sandig, körnig – dieser Klang ist sehr geräuschhaft und "schmutzig" im klanglichen Sinne, also voll von Klang-Parasiten. Er befindet sich am anderen extremen Rand, gegenüber von "Fließend, luftig". Diese Klangfarbe repräsentiert Theresas Kampf mit der Realität ihres schmerzenden Körpers. Der Klang ähnelt dem Geräusch, das beim Gehen über Kies entsteht, oder dem Klang einer geräuschvollen Radiostörung.

9) Ächzen – ziemlich wörtlich der Schmerz der körperlichen Existenz Theresas, ihre unerträgliche Qual.

10) Schrei eines spitzen Schmerzes – wie die "keuchende" Klangfarbe ist dies eine Überlagerung des Klanges eines spitzen Schreis mit dem eines anderen vokalen Klanges.

11) Schrei tiefer Schmerzen – diese Klangfarbe sollte aus der Tiefe des Körpers des Interpreten kommen, als ob der Sänger oder die Sängerin unerträgliche Schmerzen aus der Tiefe des Gedärms fühlte: ein konstanter dumpfer Schmerz mit gelegentlichen Ausbrüchen von spitzer Qual.

12) Angstvoll beunruhigt – die Klangfarbe der Unruhe Theresas, ein Klang, der durch das unangenehme Gefühl bestimmt ist, dass etwas nicht stimmt, wobei unklar bleibt, was es ist. Es ist eine Unterbrechung der glatten vokalen Klänge wie das "Keuchen" oder der "Schrei eines spitzen Schmerzes", doch wird die angstvolle Unruhe als eine Art vager Unebenheit der Klangfarbe subtiler in den Vokalklang integriert.

13) Stöhnen vor Schmerz – die folgenden vier Klangfarben verarbeiten die Zweideutigkeit in Theresas Verhältnis zu ihren körperlichen Schmerzen und Freuden. Das Stöhnen ist mehrdeutig, manchmal schmerzerfüllt, manchmal ein Zeichen von Wohlbefinden. "Stöhnen vor Schmerz" überlagert mit dem Stöhnen vor unerträglichen körperlichen Schmerzen Worte, die großenteils ihre Bedeutung verloren haben, so unfähig sind sie, die Tiefe der Erfahrungen Theresas zu transportieren. Es ist eine ziemlich geräuschhafte Klangfarbe.

14) Stöhnen vor Wonne – "Stöhnen vor Wonne" geht kontinuierlich in "Stöhnen vor Schmerz" über. Beide Klangfarben sind sehr geräuschhaft und intensiv; beide sind wechselhaft im Hinblick auf Worte und ihr Verhältnis zum Körper. In jedem Fall insistiert Theresa darauf, dass ihre Wonne nicht sexueller Natur ist. Stöhnen ist die angenehme Reaktion ihres Körpers auf die Tatsache, dass sie Gott begegnet ist. Diese Klangfarbe ist auch ziemlich geräuschhaft.

15) Seufzen mit Schmerzen – Theresa ist menschlich, auch als Heilige. Manchmal seufzt sie, weil die Schmerzen ihr zu viel werden. Erschöpfend und unerträglich. Sie seufzt, weil sie will und nicht will, dass die Schmerzen aufhören. Diese Klangfarbe ist voll schmerzerfülltem, geräuschhaftem Atem.

16) Seufzen mit Wonne – Theresas Kampf mit der Versuchung, dem Teufel nachzugeben, das heißt: körperliche Versuchungen der sexuellen Art. Dieser innere Kampf resultiert bisweilen in seltsamen hybriden Klängen, die zeigen, dass sie immer noch eine Frau ist – auch wenn sie keine Männer begehrt, genießt sie ihren Körper, wie es nur eine Frau kann – und dass sie keine Worte hat, um darüber zu sprechen. Diese Klangfarbe ist voller geräuschhafter, luftreicher Klänge, angefüllt mit sinnlicher (nicht sexueller!!!) Wonne.

Druck

Während sich die vokalen Klänge und Klangfarben ändern, ändert sich zugleich auch der vokale Druck kontinuierlich, was zu einer Art Klangfarben-Glissando zwischen Reinheit und Rauhheit des Klanges führt. Druck ist nicht dasselbe wie die Stärke des Klanges, da man einen rauhen und leisen Klang haben kann oder einen reinen und lauten. Diese Veränderungen des Drucks der Stimme werden durch Notationszeichen angezeigt, die normalerweise dynamische Veränderungen bezeichnen; ansteigender oder abnehmender Druck sind in crescendo/decrescendo-Gabeln notiert. Die Symbole reichen von llll (der leichtestmögliche Druck) über ml (mittel-leichter Druck) bis mh (mittel-starker Druck) und hhhh (höchstmöglicher Druck). Diese Veränderungen im Druck schaffen Sub-Kontinuums innerhalb einer Klangfarbe, indem sie eine mikro-farbliche Bandbreite in jener Klangfarbe schaffen, die zwischen einer sehr reinen "flautando"-Version (llll) und einer sehr rauhen, geräuschhaften Version (hhhh) mit allen Zwischenstufen (lll, ll, l, ml, mh, h, hh, hhh) variiert.

Tempo und Chaos

Die Komposition steht grundsätzlich in einem konstanten Tempo (Sechzehntel = 60), das sehr langsam ist und genügend Zeit lässt für die vielen Mikro-Variationen der Tonhöhe, Intensität und Klangfarbe. Gleichwohl gibt es Momente in der Komposition, in denen die Sänger nicht zusammen einsteigen oder aufhören und nicht alle im selben Tempo singen. Dies wird durch den Vermerk "Eintritt und Tempo ad lib" angezeigt. Diese Angabe endet mit "Ende ad lib". Einige Sänger können im strengen Tempo- und Eintritts-Modus verbleiben, während andere im ad lib-Modus sind; nicht alle "ad lib"-Vermerke sind synchron. Chaosartige Effekte entstehen durch die Mischung von festgelegten und nicht festgelegten Tempi, festgelegten und nicht festgelegten Eintritten und Enden, was zu reichen Mischungen von Ordnung und Unordnung führt, meiner Definition von musikalischem Chaos.

Verräumlichung und Live-Elektronik

Alle Stimmen werden individuell verstärkt und räumlich in drei Gruppen zu je drei Sängern aufgeteilt, die antiphonal gegeneinander singen. Sie werden im Konzertsaal an drei Eckpunkten eines Dreiecks platziert, was Theresas Verhältnis zur Zahl 3 symbolisiert (die göttliche Dreifaltigkeit, Theresa, der Engel und Jesus usw.). Diese drei vokalen Gruppen umgeben das Publikum.

Die Komposition und Transformation des Raumes ist das entscheidende Element, dessen Kontrolle die Live-Elektronik mir ermöglicht. Ich komponierte einen elektronischen Patch für jeden meiner Klangfarben-Typen, was mir ermöglichte, das, was ich akustisch tat, natürlich in den Bereich der Raumkomposition auszudehnen. Live-Elektronik, die verstimmt, die Synchronität aufhebt und den neun Stimmen verschiedene Typen diagonaler und zirkulärer Bewegungen verleiht, hat den Effekt einer viel größeren Gruppe, die in ihrer Ausdehnung und in ihrem Charakter fluktuiert. So ist Verräumlichung für mich viel mehr als die Komposition von Raumklangbewegungen oder die Hinzufügung von Nachhall. Wolken von Mikro-Ereignissen kommen im Raum zusammen, um neue klangliche Strukturen zu schaffen, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Das ist die Idee der Komposition einer sich entwickelnden klanglichen Form oder Architektur als wichtiger Aspekt der makro-formalen Ausarbeitung.Live-Elektronik mir ermöglicht. Ich komponierte einen elektronischen Patch für jeden meiner Klangfarben-Typen, was mir ermöglichte, das, was ich akustisch tat, natürlich in den Bereich der Raumkomposition auszudehnen. Live-Elektronik, die verstimmt, die Synchronität aufhebt und den neun Stimmen verschiedene Typen diagonaler und zirkulärer Bewegungen verleiht, hat den Effekt einer viel größeren Gruppe, die in ihrer Ausdehnung und in ihrem Charakter fluktuiert. So ist Verräumlichung für mich viel mehr als die Komposition von Raumklangbewegungen oder die Hinzufügung von Nachhall. Wolken von Mikro-Ereignissen kommen im Raum zusammen, um neue klangliche Strukturen zu schaffen, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Das ist die Idee der Komposition einer sich entwickelnden klanglichen Form oder Architektur als wichtiger Aspekt der makro-formalen Ausarbeitung.