Donaueschinger Musiktage 2016 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2016: "Caral für Orchester"

Stand
Autor/in
Martin Jaggi

"Caral" ist Teil eines Zyklus, der sich mit den ersten Zivilisationen auseinandersetzt: mit jenem Moment in der Geschichte, an dem die ersten Städte und organisierte Gesellschaftsformen mit hierarchischen Strukturen entstehen, sich Politik, Wirtschaft, Religion und die ersten Staaten bilden. Dies geschah unabhängig voneinander an sechs Orten: in Ägypten, in Mesopotamien, am Indus, in China, in Mesoamerika und in den Anden. Die ersten Stücke des Zyklus wenden sich den Kulturen der "Alten" Welt zu: "Uruk" (2013) für Kammerorchester (Mesopotamien), "Mehrgarh" (2013) für Ensemble (Indus-Kultur), "Girga" (2014) für Orchester (Ägypten) und "Banpo" (2015) für großes Orchester (China).

In all diesen Werken ist das Kernmaterial durch die ältesten Musiken gegeben, die in den jeweiligen Regionen noch gelebt werden, zum Beispiel durch die koptischen Liturgien in Ägypten oder die brahmanischen Rezitationen der Veden in Indien, eine der ältesten noch gelebten Musiken überhaupt. Es geht mir also nicht um eine mystische Reanimierung etwa der Musik des vordynastischen China, sondern um einen Blick auf alte Traditionen, die oft verborgen in unserer Zeit noch weiter bestehen und zum Teil weit von dem abweichen, was allgemein unter dem Begriff "Weltmusik" bekannt ist. Nur schon im nahen Alpenraum muss man bloß ein wenig an der Oberfläche kratzen, um auf Ungeheuerliches zu stoßen. Dies, finde ich, kann äußerst befruchtend auf unsere eigene, Neue Musik einwirken.

Mit dem neuesten Teil dieses losen Zyklus wende ich mich den Anden zu. Caral ist die älteste bekannte Stadtsiedlung auf dem amerikanischen Kontinent (200 km nördlich von Lima, der Hauptstadt des heutigen Peru). Die gegenwärtigen Daten weisen darauf hin, dass die Besiedlung ungefähr zwischen 3000 und 1200 v. Chr. erfolgte. Neben den städtischen Strukturen und den Zeremonialbauten ist eine der spannendsten archäologischen Entdeckungen der Fund von 32 Knochenflöten. Drei dieser Flöten wurden ausgiebig vom Team unter der Leitung der peruanischen Anthropologin Ruth Shady Solis untersucht. Die daraus folgenden Spektralanalysen der Flöten wiederum waren für mich äußerst interessant. Das harmonische Material des Stücks basiert auf jenen Tönen, die diese Flöten offenbar produzieren konnten. Am Ende gibt es eine kleine „Hommage“ an diese Knochenflöten, in der die Flötisten nur auf ihren Mundstücken spielen.

Die wohl noch ursprünglichste Musikkultur im Andenraum existiert bei den Aymara auf dem Altiplano, einer Hochebene im heutigen Bolivien bzw. Peru. Nur hier fand ich Musik, die von spanischen und anderen westlichen Einflüssen fast gänzlich unberührt ist – eine Seltenheit in einem Amerika, in dem einheimische Traditionen von den Kolonialisten erfolgreicher ausgemerzt wurden als anderswo. Das Material von Caral ist eine Auswahl persönlicher Highlights aus meinen Recherchen.

Eine Besonderheit dieser Musik ist, dass die Stimmung, obwohl diatonisch, ja oft fast pentatonisch, nicht von entscheidender Bedeutung ist (wie es auch sonst in vielen anderen Kulturen der Fall ist). Oft spielen mehrere Quenas (traditionelle Flöten in den Anden) die gleiche Melodie, aber nicht in der gleichen Stimmung, was zu fantastischen mikrotonalen Hypermixturen führen kann. Auch in meinem Stück sind die Flöten unterschiedlich gestimmt, um diesem Effekt möglichst nahe zu kommen. Das restliche Orchester spielt überwiegend in herkömmlicher Stimmung, aber gelegentlich auch in mikrotonaler Imitation der Flöten. Insgesamt schwankt das harmonische Material zwischen Sechstel- und Vierteltönigkeit. Diese "Melodien" und Fragmente bringe ich in einen dynamischen Fluss, so dass mitunter eine Megaheterofonie meiner musikalischen Fundstücke aus der Region Carals entsteht.

English

"Caral" is part of a cycle that engages with the first civilizations, with that moment in history when the first cities were founded, organized forms of society with hierarchical structures, when politics, economies, religion and the first states came into being. This occurred independently in six places: in Egypt, in Mesopotamia, on the Indus, in China, in Mesoamerica and in the Andes. The first pieces in the cycle deal with the cultures of the 'old' world: "Uruk" (2013) for chamber orchestra (Mesopotamia), "Mehrgarh" (2013) for ensemble (Indus culture), "Girga" (2014) for orchestra (Egypt) and "Banpo" (2015) for large orchestra (China).

In all of these works, the core material is taken from the oldest surviving musics from the respective regions, such as the Coptic liturgies in Egypt or the Brahmanic recitations of the Veda in India, one of the oldest living musical traditions in the world. So I am not interested in a mystical reanimation of the music of pre-dynastic China, for example, but rather in a view of ancient traditions that often continue in obscurity in our time, sometimes deviating considerably from what is generally known as 'world music'. Even close to us, in the Alps, one only needs to scratch the surface a little to discover incredible things. This, I feel, can have an extremely fruitful effect on our own New Music.

In the newest part of this informal cycle I turn my attention to the Andes. Caral is the earliest known urban settlement on the American continent (200 km north of Lima, the capital of modern-day Peru). Current data indicates that it was settled roughly between 3.000 and 1.200 BC. Alongside the urban structures and ceremonial buildings, one of the most exciting archaeological discoveries was a group of 32 bone flutes. Three of these were extensively examined by a team directed by the Peruvian anthropologist Ruth Shady Solis. The resulting spectral analyses of the flute sounds were extremely interesting for me; the harmonic material of the piece is based on those pitches which these flutes could verifiably produce. At the end, there is a little 'tribute' to these bone flutes in which the flautists only play on the headjoints of their instruments.

The most untouched musical culture in the Andean region is probably that of the Aymara on the Altiplano, a plateau in modern day Bolivia and Peru. Only there did I find a music that was almost entirely unadulterated by Spanish and other Western influences – a rarity in America, where indigenous traditions were wiped out by the colonialists more thoroughly than elsewhere. The material of Caral is a selection of personal highlights from my research.

One peculiarity of this music is that the tuning, though diatonic – often almost pentatonic, in fact – is not of decisive significance (this is also the case in many other cultures). Often several quenas (traditional Andean flutes) play the same melody in different tunings, which can lead to fantastic microtonal agglomerations. In my piece the flutes are likewise tuned in different ways, in order to come as close as possible to this effect. The rest of the orchestra plays mostly in conventional tuning, but occasionally engages in microtonal imitation of the flutes. Overall, the basis of the harmonic material fluctuates between sixth tones and quartertones. These 'melodies' and fragments are put into a state of dynamic flux, which sometimes results in a megaheterophony of musical finds from the region of Caral.

Stand
Autor/in
Martin Jaggi