Donaueschinger Musiktage 2001 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2001: "Polyskopie"

Stand
Autor/in
Clemens Gadenstätter

Polyphem und Polyskop: Ein Floskelwesen.

Loplop presente une fleur (M. Ernst)

Jede Arbeit an meiner Wahrnehmung des Konnexes zwischen Elementen und an der Geformtheit meiner Wahrnehmung durch diese Konnexe verstehe ich als Experiment, das wie das kindliche Spiel – mit dessen Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit ausgeführt – nicht zum Erkenntnisgewinn im wissenschaftlichen Sinn, sondern zum Erproben des eigenen Verhältnisses zum vor mir Vorhandenen eingesetzt wird. Dieses Spiel wird zum Experiment, weil es mit seinen Regeln und,durch diese, mit den daraus resultierenden Erfahrungen selbst wieder der reflexiven Erprobung unterzogen wird.

Wie schafft sich beispielsweise die "Charakterrolle" des Solisten/der Solistin? Wie ist der Raum beschaffen zwischen dem Quartsextakkord und der darauffolgenden Dominante, dieses "X", wie beantwortet sich die Frage danach, an welchem Punkt der Wand Außenwand und Innenwand sich voneinander lösen? Treffen Fahrrad und Wasser aufeinander, sind Nasswerden und Untergang konnotiert. Eine Max Ernst'sches Hydrocyclette allerdings...

Experiment ist die Arbeit an der Schnittstelle zwischen dem Code und der mit der Entzifferung einhergehenden Verarbeitung des subjektiv Verstandenen. Dieses Experiment ist ein Spiel, weil es den Konnex zwischen mir und den Informationen, die mich wesentlich ausbilden, zu einem erprobbaren Experimentierfeld macht. Es geht mir um eine durchaus kindliche Arbeit an der Wechselwirkung zwischen meiner Geprägtheit durch Codes und an der Prägung dieser Codes durch mein Verständnis des kollektiven Verstehens. D.h.: Komponieren ist für mich ein Umgang mit akustischen Informationen über das Spielen in einem Experimentierfeld bestimmter Konnexe. Um die von mir wahrgenommenen Konnexe zwischen akustischen Elementen der Bearbeitbarkeit durch das Komponieren zu öffnen, ist es notwendig, diese aus der von-selbst-Verständlichkeit ihrer Verbindung zu Konnexen herauszulösen und die ihnen durch Gewohnheit eingeschriebene Decodierung zu hinterfragen. Ich versuche also, eine Spielstätte zu schaffen, die geprägt ist von experimentellen, d.h. künstlichen "Naturgesetzen": Alle Bausteine bleiben sie selbst, werden aber in Kontextfelder gestellt, in denen ihre Qualitäten "auffallen" und dadurch bearbeitbar werden können.

Es scheint mir notwendig, Kontextfelder zu schaffen, die Wahrnehmung ermöglichen anstelle vollautomatischer Decodierung. Diese Kontextfelder sind aus meinen "Kenntnissen" abgeleitet und erhoffterweise doch potentiell fremd. Die Erstellung dieser Kontextfelder geschieht durch eine Isolierung einiger weniger Wahrnehmungsweisen aus einer Wahrnehmungstradition und deren extensive Anwendung auch auf Elemente, für die gewöhnlich eine andere, ihnen selbstverständlich zugeordnete "Brille" vorgesehen ist. Die Elemente und das ihnen anhaftende tradierte Wahrgenommenwerden sollen durch einen "polyphemisch-polyskopischen" Blick gebrochen werden. Unter dem als Ergebnis von Analysen auftauchenden Aspekt ergibt sich eine andere Konnexmöglichkeit, ein anderer, möglicher Code. Das erstellte "Setting" deformiert die in Qualität, Konnex und Bedeutung vorgeformten Wahrnehmungseinheiten hin zu einem speziellen Informationsangebot.

Ich möchte ein Polyskop (Polyskop: Gerät zum Erstellen und Betrachten von polydimensionalen Bildern) konstruieren, dessen Einzelteile mir bekannt sind, dessen Funktionsweisen, Möglichkeiten etc. ich aber durch die Arbeit mit ihm erkunden muss, um es dann notgedrungenerweise wieder umzubauen, damit ich mit seiner Hilfe es selbst erkunden kann. Es ergibt sich dadurch eine Art lebendiger Entwicklung auch des Polyskops, wobei der polyskopische Glanz (entsteht durch das partielle Fehlen einander entsprechender und das Vollbild erzeugender Bildpunkte in manchen Teilbildern) zum Informationsträger werden soll.

Was vollständig bekannt oder unbekannt ist, hat keinen Informationswert. Das in der Bearbeitung gleichzeitige Vorhandensein der Qualitäten "bekannt" und "unbekannt" bei Elementen ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass diese und deren Verknüpfungsmodalitäten Informationsträger" werden, dass ihre komplexen Strukturen sichtbar werden. Polydimensionale Hörräume werden möglich, die, wie ich hoffe, der mehrfachen Gebundenheit wegen dem manipulativen Charakter des von-selbst-Verständlichen, funktional Ausgerichteten entgegengesetzt sind. Ein Floskelwesen, hier verstanden als eine (durchaus glitzernde) Ansammlung von – unter einer scheinbaren von-selbst-Verständlichkeit verschütteten – Qualitäten und sinnlos gewordenen Bedeutungen, ist der Grund, auf dem die Versuchsanordnung Spielraum erst wieder anbietet. Und Re-Kategorisierung soll die Methode sein, die simultane Wahrnehmung von "Parallelwelten" – potentiell immer in unendlicher Zahl vorhanden und ebenso "real" wie jene einzige, der den Vorzug zu geben ich aus Gründen der Sozialisation versucht bin – zu ermöglichen. Die den Wahrnehmungsstand definierenden Qualitäts- und Bedeutungszuschreibungen bleiben, die durch die Bearbeitungen spielerisch/experimentell zutage geforderten werden erlebbar wie jene, die sich aus dem Aufeinanderprallen dieser Ebenen ergeben: Der Aufprall erzeugt Paradoxie (oder Realität, Lisa Spalt). Gleichzeitigkeit bedeutet dann, dass auf der Ebene der Materialität, Kontextualität, der beobachteten Elemente und deren Verknüpfungsmodi... etc. Geschichte (Wahrnehmungsstand) und Zukunft (potentielle Offenheit zur Polydimensionalität) im (nicht existenten) Augenblick zusammengepresst waren.

Sprünge und Diskontinuitäten, die sich im Zusammentreffen der Elemente auftun, setze ich nach (s.o: polyskopischer Glanz): Ganzheit, die im Spiel und im Experiment fur die Wahrnehmung aufgebrochen wird, gerade indem sie als bestehende angenommen wird, wird als Scheinqualität und nur scheinbar existente Form der Wahrnehmung, als ein psychisches Bedürfnis kenntlich gemacht, als ein liebevoll zu betrachendes Ergebnis von etwas, das Fritz Widhalm einen spezifisch menschlichen "Huscher" nennen würde. Huscher: der Mechanismus, der Sprünge und Diskontinuitäten als Qualitäten hörbar und aushaltbar macht, der es möglich macht, den Sprüngen mithilfe von Arbeitsweisen und auf der Arbeitswiese auf die Sprünge zu helfen. Und das Spiel muss natürlich immer wieder von Neuem beginnen, muss eine – nicht "teleologische" – Bewegung ermöglichen, eine spiralförmiges, aus dem Musil'schen "Durchwurschtln" sich entfernendes "Weiterwurschtln", das die eigene Bewegung reflektieren soll im Spiel und Experiment: "Man meinte sich zu entfernen und findet sich in der Vertikalen seiner selber" (M. Foucault) oder: "Lust an sich" im Harry Mathews'schen Doppelsinn. Schließlich bildet sich jede musikalische Einheit nicht nur rein akustisch, sondern auch auf körperlicher Ebene ab: eine "Minimotorik", die jeder Klang induziert, eine ihm kongruente Bewegung unseres Körpers, die aber im Rezeptionsraum "Konzert" selten ausgelebt wird, die meist eine rein körperlich "vorgestellte" bleibt. Ich schreibe dieser körperlichen Energie einen Großteil dessen zu, was man gemeinhin mit der Emotionalität der Klänge zu umschreiben versucht: "was wäre erinnerung ohne fingerspitzen", fragt Ilse Kilic.

Diese Ebene der körperlichen Präsenz der Klänge ebenfalls strukturell zu fassen, zu bearbeiten und als weitere Qualität dem "konzertierenden" Spiel mit dem Konzert einzuschreiben, scheint mir wesentlich zu sein: das Spiel mit der auch über die körperliche Energie der Spielenden übertragenen Energie und der dadurch entstehenden Emotionalität. Dabei soll nicht das vollkommen bekannte und damit informationsfreie Arme von sich Werfen der Operndramatik, soll nicht das Crescendo mit Paukenschlag auf dem Höhepunkt, nicht das Gestenrepertoire wieder-geholt werden, sondern eine Gestik im Experiment sich bilden, die sich durch nicht bekannte Konnexe wieder "unmittelbarer" dem Körper mitteilen kann.

Spielgerätschaften und SpielgesellschafterInnen sind Isolation, Kontextschnitt, Projektion, Zoom, Wechsel der Manifestationsebene, Einfrieren und Übertreiben... etc. Diese Spielgerätschaften und SpielgesellschafterInnen sind als Bearbeitungsinstrumente keine objektiven BeobachterInnen, greifen in das Geschehen ein, sind Teil des Lustfaktors "Künstlichkeit" und diesem selbst ausgesetzt, wie auch ich in den Strudel der Verkünstlichung zur (Selbst)Wahrnehmung und (Selbst)Bearbeitung gezogen bin. "Nun, Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll von Puppen und Spielzeug?... Wollen wir ihnen Schnurrbarte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fracke anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen und uns mit dem Mikroskop danebensetzen?" (Leonce und Lena, G.Büchner).

Stand
Autor/in
Clemens Gadenstätter