Donaueschinger Musiktage 2004 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2004: "Lautung"

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AUTOR/IN
Andreas Dohmen

Andreas Dohmen

Lautung – für großes Orchester mit Solostimmen (2003/04) knüpft direkt an das zuvor komponierte Orchesterstück tempo giusto an. Und dies so, dass beide Orchesterstücke auch unmittelbar ineinander übergehend gespielt werden können: Die Orchesterbesetzung bleibt gleich, lediglich ein Solistenensemble wechselt in den letzten Takten des einen Orchesterstücks zu den ersten des folgenden. Die Funktion von vier Solo-Schlagzeugern in tempo giusto übernehmen nun fünf Vokalsolisten in der Lautung.
Geschwindigkeit und Lautstärke sind hier elementare Phänomene im Widerspiel. Beim Kompositionsprozess war der Blick darauf gerichtet, beide Elemente entstehen und sich entgegenstehen zu lassen; unausweichlich dabei immer auch ein Komponieren mit und von Relativitäten.

Tempo giusto bedeutet "angemessenes", "richtiges" Tempo. In der Lautung wird nun die angemessene Lautstärke untersucht (auch jetzt immer wieder in dem verdreht übertragenen Wortsinn: etwas "anmessen"). Es erscheinen "richtige" Lautstärken (Geschwindigkeiten und Laute der Sänger) – und eben auch "falsche": Ver-Rückungen dieser Elemente, Transformationen, Auf- und Verdeckungen, bis hin zu Konstellationen von Gleichzeitigkeiten, sich scheinbar widersprechenden Spielanweisungen oder Texturen in und zwischen beiden Kollektiven.

Die Sänger werden im Stück nicht verstärkt. Sie selber spielen live während der Aufführung die Verstärkung ihrer eigenen Stimme: manuell und haptisch, jeder Sänger für sich an einem eigenen Regler. Die Verstärkung der Sänger ist im Stück immer gänzlich "instrumental" gedacht und komponiert. Ziel dessen ist nicht, den Sängern durch eine Verstärkung lediglich eine größere Dynamikkraft gegenüber dem großen Orchester zu ermöglichen, sondern weiterführende Dynamikpotentiale und -situationen zu erschließen. Die Verstärkung für die Sänger wurde so in einem wörtlichen Sinne "handhabbar" gemacht, um auch andere Parameter fokussieren zu können. Und es erscheint wieder ein Spiel zwischen echt und falsch. (Ist der sehr leise gesungene Ton, der verstärkt wird, denn nun wirklich auf einmal laut? Ist ein ff gesungener, unverstärkter Ton leise? – oder, obwohl fast verdeckt, nicht doch noch laut?) Ungleiche Kräfteverhältnisse, deren Kontrolle in die Hände der Sänger gelegt ist.

Der Text der Sänger? Es gibt keinen. Jedenfalls nicht so, dass ein Textinhalt für die Hörer von irgendeiner Bedeutung wäre. Wenn bei der Arbeit Texte gebraucht wurden, dann um mit diesen vor allem Situationen von Geschwindigkeiten/Schnelligkeiten, um Vokalfarben, Sprachrhythmen und Sprachgesten, ein Changieren zwischen Sprachähnlichkeiten und Sprachferne komponieren zu können. Texte wurden benutzt, um ein Vorhandensein von Text nur zu simulieren – Widersprüchlichkeiten und Gratwanderungen überall.

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Andreas Dohmen