Werke des Jahres 2005

SWR NOWJazz-Sessions

Stand

Otomo Yoshihides neues Quartett und Ken Vandermarks "Territory Band 4"

Reduktionismus versus Free Jazz

Die Bandbreite des gegenwärtigen Improvisierens ist enorm. Sieht man vom zähflüssig gewordenen Mainstream des Jazz einmal ab, der seine einst so breitenwirksame Kraft längst verloren hat und an der Repetition der immergleichen Patterns künstlerisch langsam zu versiegen droht, so bietet die Improvisationsszene heute ein so vielfältiges Bild wie nie zuvor. Lautstarker, polyrhythmischer Rockjazz steht neben zarten, elektronischen Experimenten, wütender Post-Free-Jazz neben stillem Reduktionismus, postmoderner HipHop-Funk neben melodiösem Ethno-Jazz. Die Zeit, in der eine dieser verschiedenen Strömungen zur Speerspitze des innovativen Improvisierens erklärt werden konnte, wie in den sechziger Jahren der Free Jazz, ist längst vorbei. Überraschende musikalische Neuerungen ereignen sich in den verschiedensten Szenen des gegenwärtigen Improvisierens; sie zu vergleichen, verbieten die enormen Unterschiede ihrer ästhetischen Ansätze oft nahezu, wenngleich es nicht selten auch zu Überschneidungen kommt.

Deshalb sind die beiden NOWJazz Sessions dieser Donaueschinger Musiktage bewusst gegensätzlich konzipiert. Sie spiegeln die gegenwärtige Vielfalt des Improvisierens gleichsam an deren extremen Polen: dem ästhetischen Reduktionismus und dessen an Luigi Nono gemahnenden stillen Protest, wie ihn der Japaner Otomo Yoshihide vertritt, und dem wieder erstarkten, lautstarke Vetos formulierenden Post-Free-Jazz, der vor allem in Chicago dank junger, glutvoller Musiker wie Ken Vandermark wieder zu einer neuen Blüte gelangt ist.

Betrachtet man diese beiden Persönlichkeiten, wird zugleich klar, wie schwer es ist, sinnvolle Trennlinien zu ziehen: Obwohl Otomo Yoshihide vor allem als Vertreter des extremen Reduktionismus mit einer Musik am Rande des gerade noch Hörbaren bekannt geworden ist, wäre es falsch, ihn allein damit zu identifizieren. Denn die musikalischen Hintergründe des aus Yokohama stammenden Musikers sind vielfältig. Ursprünglich Rock- und Free-Jazz-Gitarrist, hatte sich Otomos Stil erst durch die Integration der Elektronik radikal gewandelt: Vor allem in den Duos mit der insistierenden Sinuswellen-Dompteuse Sachiko M entdeckte er eine ganz auf intime Sounds konzentrierte Klangwelt. Doch in jüngster Zeit hat Otomo die Musikwelt wieder mit echtem Jazz überrascht. Natürlich nicht in der rückwärtsgewandten Ausprägung des Mainstream, sondern in einer die Patterns des Jazz reflektierenden Form. Als "Meta Jazz" ließe sich diese ganz neue Strömung im Schaffen Otomos vielleicht am ehesten bezeichnen, als "Jazz über Jazz", der in der freien Verfügung über alle improvisatorischen Materialien aus einer Art Meta-Perspektive auf die Geschichte des Jazz blickt. Ähnliche Entwicklungen sind auch im Westen zu beobachten: bei Musikern wie dem österreichischen Trompeter Franz Hautzinger etwa, dessen "Regenorchester" die Errungenschaften des Reduktionismus integriert, um bei Miles Davis' "Electric Jazz" wieder anzuknüpfen; oder bei seinem Berliner Kollegen Axel Dörner, der gemeinsam mit dem Ensemble "Die Enttäuschung" um den Pianisten Alexander von Schlippenbach eine ganz heutige Sicht auf das Schaffen von Thelonious Monk warf; oder beim New Yorker Trio Medeski, Martin & Wood, das spielerisch die Standards des Jazz in ein deftig-rockjazziges Ambiente fügt.

Bei dem aus Warwick in Rhode Island stammenden Saxophonisten und Klarinettisten Ken Vandermark scheint der musikalische Background auf den ersten Blick stringenter zu sein: Seit 1989 in Chicago ansässig, jener Stadt, die durch die AACM (die Association for the Advancement of Creative Musicians) bekannt ist für eine weite, offene Free-Jazz-Szene, kam Vandermark rasch mit den wichtigsten dort ansässigen Improvisationsmusikern wie Fred Anderson, Joe McPhee oder Peter Brötzmann in Kontakt. In dem deutschen Saxophonisten, der derzeit viele seiner Projekte in Chicago durchführt, fand der junge Saxophonist einen kraftvollen Mentor. So spielt Vandermark in Brötzmanns Trio "Sonore" und zählt auch zu den Stammkräften von dessen "Chicago Tente"t. Musiker aus diesem Ensemble wie Mats Gustafsson, Jeb Bishop, Fred Lonberg-Holm, Kent Kessler oder Hamid Drake zählen zu den ständigen Spielpartnern des Saxophonisten. Der Kontext scheint also klar: die Tradition des Free Jazz, die gerade in Chicago ihre stärksten Wurzeln hat.

Doch der zweite Blick auf Vandermarks Biografie offenbart einen ganz anderen Einfluss: seine Affinität zum Film, die er als ehemaliger Student der McGill University in Montreal in seine Musik einbringt. Nahezu filmschnittartige Techniken sind sowohl für das Quintett "Vandermark 5" als auch für die "Territory Band" bestimmend, die blitzartig zwischen verschiedenen stilistischen Ebenen hin- und herspringen können. Vandermarks Gruppen integrieren sowohl Elemente aus der Geschichte des Jazz als auch Funk, Rock und traditionelle Volksmusiken aus aller Welt. Neuerdings setzt Vandermark in der "Territory Band", ähnlich wie Evan Parker in seinem "Electro-Acoustic Ensemble", auch elektronische Instrumente ein. Überdies wechseln diese Ensembles nahtlos zwischen frei improvisierten und streng ausnotierten Teilen.

Dieses Ineinander von komponierten und frei improvisierten Passagen bestimmt auch das neue Stück von Vandermarks "Territory Band 4". Auch in diesem bislang fünften Projekt für die große, zwölfköpfige Gruppe versucht Vandermark in seinen eigenen Worten "kompositorische Rahmen zu schaffen, die die Improvisatoren eher frei machen und motivieren, als sie mit strengen Vorschriften oder übermäßig komplexem Material einzuengen." Auch wenn das Improvisieren also im Fokus bleibt, sind die durchkomponierten, die Form strukturierenden Teile des neuen Stücks, das vor der Donaueschinger Uraufführung im Studio 1 des SWR in Baden-Baden geprobt wurde, deutlich erkennbar.

Insofern wird man Ken Vandermark schwerlich als klassischen Free-Jazz-Musiker bezeichnen können, so wenig, wie Otomo Yoshihide dem Klischee des Computer-vernarrten Elektronik-Freaks gerecht wird. Abgesehen davon, dass Otomo nach einer Phase des puristisch-elektronischen Musizierens in jüngster Zeit immer häufiger wieder zur Gitarre greift, hat er in sein neues Quartett, das in Donaueschingen sein erstes Konzert spielen wird, neben seiner langjährigen Partnerin Sachiko M wohl mit Bedacht zwei Instrumentalisten aus der zur Zeit so fruchtbaren Achse Tokio-Berlin-Wien integriert: den in Berlin lebenden Trompeter Axel Dörner und den in Wien lebenden Schlagzeuger Martin Brandlmayr. Beide Musiker sind zwar aus der Szene des ästhetischen Reduktionismus bekannt - kaum je greift Brandlmayr zu den Trommelschlägeln, um sein Schlagzeug stattdessen mit Händen oder Jazzbesen in ein vielschichtiges Perkussionsinstrument zu verwandeln; kaum je bläst Dörner einen richtigen Trompetenton, um sein Instrument stattdessen zu einer zart tönenden Luftröhre mutieren zu lassen -, doch kann man beide Instrumentalisten in jüngster Zeit auch in ganz anderen Kontexten hören: Brandlmayr als Mitglied des Trios "Trapist", das Echos der Country & Western Music elektronisch wieder aufnimmt, Dörner in der bereits erwähnten "Enttäuschung" und sogar in Ken Vandermarks "Territory Band 4".

Womit sich am schlagendsten zeigt, dass es trotz der Vielfalt ästhetischer Ansätze durch die zahlreichen Überschneidungen in der Improvisationsszene derzeit sinnlos geworden ist, strikte Trennlinien zwischen den Stilen improvisierter Musik ziehen zu wollen. Kein Zufall, dass auch die Biografie Otomos eine Affinität zu jener Vandermarks erkennen lässt: in den zahlreichen Musiken, die der Japaner für Filme komponiert hat. Und so kommt vielleicht alles anders, als ursprünglich gedacht, falls Otomo brachial in die Turntables greifen und Vandermark, wie unlängst in Nickelsdorf, klanglich feine Klarinettenlinien ziehen sollte: der Free-Jazzer als zart-reduktionistischer Klangkonstrukteur, der Reduktionist als rabiat-dröhnender Noisemusiker - alles ist möglich in der gegenwärtigen Improvisationsmusik.

Reinhard Kager

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Autor/in
SWR