Donaueschinger Musiktage 1999 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1999: "Himmelsleiter"

Stand
Autor/in
Rilo Chmielorz

Die Idee zu dieser Installation entstand parallel zu einem Zyklus von schwarz-weiß gemalten Bildern, in die ich Liniengefüge gekratzt habe, die an Leitern, vielleicht auch Strickleitern erinnern, die manchmal abreißen und manchmal nirgendwo hinführen. Das Treppenhaus der F.F.Kammer bietet die idealen Voraussetzungen für Himmelsleiter: 22 vertikal verspannte, vergoldete Saiten am oberen Ende der Treppe versperren nun den üblichen Weg, stellen aber eine vermeintliche Verbindung zum Himmel her, denn über der Freitreppe schwebt das Glasgiebeldach, in das die vergoldeten Saiten münden. In kleinen konzertanten Performances streiche ich die Saiten und kratze das Blattgold von den Saiten. Diese Klangkomposition wird elektroakustisch mit einer im Studio vorproduzierten Klangcollage verwoben und stellt nun auf horizontaler Ebene eine Verbindung her zwischen den vertikalen Linien: eine Leiter wie im Traum.

Jakob träumte von einer Himmelsleiter, auf der die Engel vom Himmel auf die Erde hinab- und wieder hinaufsteigen konnten. Eine absurde Vorstellung: schließlich können Engel doch fliegen... oder war Jakobs Leiter eine pragmatische Maßnahme zur Überwindung der Schwerkraft?

Neil Armstrong musste gegen die Schwerelosigkeit angehen bei seinen ersten Schritten auf dem Mond. Dort hat er keine Engel getroffen, aber auch keine Höhenangst gefunden. Neils Himmelsleiter war aus Fortschritt gebaut: eine Rakete brachte ihn durch das Universum direkt zum Mond.

Heute glaubt man zu wissen, dass das gesamte Universum aus Schwingungen besteht und sich wissenschaftlich durch die sogenannte "Stringtheorie" erklären läßt. Die Stringtheorie, so erklären die Physiker, könne nun endlich die Theorien der Gravitation und der starken und elektroschwachen Wechselwirkung vereinen. Wird hier nun theoretisch die Schwerkraft überwunden?

Dass Schwingungen praktisch in Form von Tönen und Musik den Menschen immer schon als universale Sprache und Ausdrucksmittel gedient haben, ist hinreichend bekannt. Auch gelingt es diesen Schwingungen bisweilen subjektiv einen Zustand der Schwerelosigkeit zu suggerieren.

Plötzlich interessierte mich der alte Traum des Menschen zu fliegen und einmal in den Himmel aufzusteigen, bevor man stirbt. Oder vor lauter Fortschritt am Ende doch unsterblich zu werden, und gleich den Engeln in Jakobs Traum beliebig auf der Himmelsleiter auf und ab zu steigen. Doch trotz technischem Fortschritt leiden wir an Flugangst oder an Höhenangst. Letztere meint ja weniger die Angst vor der Höhe, als vielmehr die Angst, in die Tiefe zu stürzen – zu fallen: Höhe als Falle. Praktische Gravitation. Ein scheinbar ambivalentes Vergnügen zwischen zwei Räumen zu schweben, das durchaus Kraft kostet. Diese Zwischenräume, diese Übergangsräume zeichnen sich durch eine hohe Fragilität aus. Man kann sie nur durchqueren, wenn man die nötigen Hilfsmittel zur Verfügung hat: hier können leise Töne entstehen oder Geräusche – flüchtige Zeichen, ein Kratzer, davonschwebendes Blattgold. Raum wird endlos, Zeit ontologisch.

Himmelsleiter entfaltet sich visuell und akustisch. Poetische Verbundenheit wird angestrebt. Aber die Saiten der Himmelsleiter können reißen. Auch wird die Treppe zur Einbahnstraße.
Vorsicht ist geboten bei Höhenangst!

Festivaljahrgänge
Donaueschinger Musiktage 1999
Themen in diesem Beitrag
Rilo Chmielorz, Himmelsleiter
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Autor/in
Rilo Chmielorz