Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "Il tempo cambia"

Stand
Autor/in
Stefano Giannotti

Über die Entstehung

1997 wurden Giorgio Lazzarini (ein weiterer Komponist aus Lucca) und ich von dem Choreographen Roberto Castello gebeten, 32 Klangbilder zu den Themen des I Ging für seine Aufführung 64 Variationen der Zeit (1. Teil) zu komponieren. Roberto wollte eine Reihe kurzer Choreographien entwickeln, um sie von drei Tänzern in einem Container von 8m x 4m x 2,5m auf einem der Plätze unserer Stadt aufführen zu lassen. Jede Seite des Containers sollte verschlossen sein – mit Ausnahme einiger Löcher, durch die der Zuschauer an verschiedenen Stellen wie in einer Peep-Show der Aufführung folgen konnte.

Dass die gespielten Stücke durch das I Ging angeregt waren, wurde dem Publikum nicht verraten. Die einzelne Dauer jeder Miniatur (2 Minuten) sollte den Rhythmus der Aufführung bestimmen, wie eine Art musikalische Uhr. Ich komponierte vierzehn Stücke, die ich Il tempo cambia nannte, was soviel heißt wie "Die Zeiten ändern sich" oder auch "Das Wetter ändert sich". Giorgio komponierte auch vierzehn Stücke. Die restlichen vier entwarfen wir zusammen. Durch Zufallsauslosung entschieden wir, welche Stücke jeder von uns komponieren sollte.

Das Projekt wurde am 5. September auf dem Piazza dell' Anfiteatro in Lucca uraufgeführt. Während ich an diesem Projekt arbeitete, hatte ich die Idee, diese Reihe von vierzehn Stücken in ein autonomes Stück zu verwandeln, das in einem Theater aufgeführt werden könnte. Dazu ergab sich ein Jahr später in Berlin die Gelegenheit: Das Ensemble Zwischentöne unter Leitung Peter Ablingers bat mich, ein Stück zu komponieren. Ich beschloss, die I-Ging-Miniaturen neu zu konzipieren. Die neue Version bezog nun Stimmen, zwei Flöten, Saxophon, Marimba, Vibraphon, Klavier, Bandoneon und Tonbandaufnahmen mit ein und wurde im Ballhaus Naunynstrasse – einer der wichtigsten alternativen Konzerthallen Berlins – uraufgeführt.

Der ironische Charakter der Aufführung wurde durch minimalistische Szenenvorgänge verdeutlicht, die hauptsächlich auf einem Wechselspiel von Licht und Finsternis beruhten. Teils änderten sich die Längen der Einzelstücke. Das Ergebnis war eine Art post-industrielles surrealistisches Kabarett – in der Grauzone zwischen Alltagsleben und Archetypik, zwischen Mythologie und Kommunikation. Eine weitere, aus sechzehn Miniaturen bestehende Version, habe ich im Jahre 2000 mit meiner Gruppe Il Teatro del Faro für die Sendung "The Listening Room" bei ABC Radio Sydney erarbeitet. Eine besondere Grundlage dieser neuen Version war der radiophone Charakter, der sich aus der Hinzufügung von Geräuschlandschaften und aus einer neuen Bestimmung der akustischen Vorgänge ergab.

Einige Miniaturen verwandelten sich mit akustischen Mitteln in echte Mini-Hörspiele. Der vielstimmige Charakter der vorhergehenden Version blieb gewahrt, auch wenn ich einige der Miniaturen für andere Instrumente arrangierte (Flöte, Fagott, Synthesizer, andere Arten von Stimmen usw.). Diese Version wurde am 16. Juli 2001 urgesendet.

Seitdem plante ich, auch Miniaturen nach den restlichen Schriftzeichen des I Ging zu komponieren. Ich beschloss, auch an den Zeichen zu arbeiten, mit denen sich Giorgio Lazzarini alleine und mit mir zusammen vier Jahre zuvor beschäftigt hatte. Ein erster Block mit 32 Stücken (dem ersten Buch des I Ging) war im Oktober 2001 fertiggestellt. Die Komposition des zweiten Buches ist für nächstes Jahr geplant.

Das I Ging ist nicht nur ein Orakel. Seine Weisheit umfasst alle Wissenszweige. Die auf den I Ging-Zeichen aufgebaute akustische Dramaturgie beruht meistens auf einer ganz plötzlichen, direkten Darstellung der von den Titeln suggerierten Bilder, im Grunde auf einer Verwandlung der literarischen Bilder in Klanggemälde. In anderen Fällen habe ich versucht, die Bedeutung der Schriftzeichen tiefer auszuloten.

Mein Ziel ist es, durch 64 kurze Hörbilder beispielhaft etwas zu erreichen, das für eine Art Sinnbild des Menschlichen stehen kann: vergleichbar mit 64 verschiedenen Träumen, die sich als pure Bilder entfalten und in denen sich doch gleichzeitig tiefere Bedeutungen verbergen, die sich auf menschliche Archetypen beziehen. Ich stelle mir vor, dass diese Hörbilder jedem vertraut sein müssten (wie es auch die Bilder des I Ging sind). Aber wie es auch in Träumen vorkommt, sind ihre Elemente manchmal vermischt oder verworren, manchmal überdeutlich oder auf unerklärliche Weise verbunden. Ironisches, Dramatisches, Unsinn, Spiel, Tod, Fiktion, Verwirrung, Charme, Sprache – all diese stilistischen Bestandteile sind genauso in das akustische Karussell von Il tempo cambia einbezogen wie in unseren Lebensweg.

Stand
Autor/in
Stefano Giannotti