In nächster Nähe, so fern
Elektronisch ist fast alles schon machbar: Das Nahe in die Ferne zu rücken oder das Ferne ganz in die Nähe - täglich werden wir von neuem mit jenem Phänomen konfrontiert, das der amerikanische Medientheoretiker Marshall McLuhan schon in den sechziger Jahren hellsichtig als "Global Village" bezeichnet hatte: Nach dreitausend Jahren der Explosion des Spezialistentums durch die technischen Ausweitungen unseres Körpers wirkt unsere Welt nun in einer gegenläufigen Entwicklung komprimierend, hatte McLuhan in Understanding Media geschrieben und resümiert: Elektrisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf.
Dementsprechend hat auch der akustische Raum durch den Einsatz elektronischer Medien eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Was gehört werden kann, ist keinesfalls mehr an den Ort gebunden, an dem die akustischen Signale erzeugt werden. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeit, über weite Strecken nahezu ohne zeitlichen Verlust musikalisch kommunizieren zu können, führte in jüngster Zeit zu ganz eigenen, allein durch elektronische Mittel möglich gemachten Projekten.
So hatte etwa der Schweizer Klangarchitekt Andres Bosshard mit Telefonia schon 1991 ein solch räumlich disloziertes Projekt realisiert und akustische Signale vom Gipfel des Schweizer Säntis nach New York und zurück nach Winterthur gesandt. Der amerikanische Klangkünstler Bill Fontana übertrug 1995 bei den Donaueschinger Musiktagen in seiner Klangskulptur Returning Landscape die Sounds vom Donaudelta des Schwarzen Meeres simultan mit Fiakergetrappel aus der Wiener Altstadt an die Quelle der Donau.
Der österreichische Komponist Karlheinz Essl lud 1997 unter dem Titel Amazing maze bei einem Internet-Konzert zu einer weltumspannenden musikalischen Kommunikation. Und die amerikanische Akkordeonistin Pauline Oliveros sandte beim Festival Zeitfluss '97 ihre Klänge via Radiowellen gar bis zum Mond, um diese Echoes from the moon, zeitverzögert um rund vier Sekunden, dann wieder auf den Salzburger Domplatz zu übertragen, wo sie sich wie ein imaginäres Klangdach über dem erstaunten Publikum wölbten. Einige spektakuläre Beispiele für unzählige Projekte, die das Ferne ganz nah rücken und in ein anderes Mischungsverhältnis setzen wollten.
Um so erstaunlicher ist es, dass fünf der aktivsten Musiker der jungen, experimentellen Berliner Elektronik-Szene mit ihrem Projekt 4rooms keinesfalls solch einen Weltenbummel antreten wollen, obwohl die technischen Möglichkeiten heute noch labyrinthischere Vernetzungen zuließen. Auch wenn bei diesen 4rooms der traditionelle Konzertsaal als Ort des akustischen Geschehens verlassen wird, erinnert das von Andrea Neumann und Christof Kurzmann erarbeitete Konzept eher an ein intimes Hauskonzert denn an einen akustischen Satellitentrip.
Assoziationen werden allenfalls zu den barocken Wandelkonzerten wach: Die Fêtes galantes et pastorales, bei denen das fürstliche Publikum in verschiedensten Ecken der verzweigten barocken Gärten auf musikalische Darbietungen stieß, hatten schon 1974 den polnischen Komponisten Zygmunt Krauze zu einem Wandelkonzert beim Grazer Musikprotokoll inspiriert, bei dem das Publikum in den Prunksälen des Barockschlosses Eggenberg durch verschiedenste akustische Stationen wandern konnte.
Doch eine Realschule ist kein Barockschloss und das Konzept der 4rooms kein musikalischer Kreuzweg, bei dem sich unterschiedliche Musikstücke vermischen. Das Spannende an dem Projekt ist vielmehr, dass es auf einer einzigen Klangquelle beruht, die elektronisch weiterverarbeitet wird: Kernstück der 4rooms sind die Improvisationen von Andrea Neumann, die auf einem aus dem Gehäuse gelösten und auf die Saiten, den Metallrahmen und den Resonanzboden reduzierten "Innenklavier" spielt, und Tony Buck auf dem Schlagzeug.
Was Neumann und Buck improvisieren, wird in drei von dieser Ursprungsquelle separierte Räume übertragen, wo diese ursprünglich rein instrumentalen Klänge von Christof Kurzmann, Sabine Ercklentz und Ana Maria Rodriguez auf ihren elektronischen Geräten live transformiert und verfremdet werden. Das örtlich so Nahe, die nur wenige Meter von den drei Elektronik-Räumen stattfindende Improvisation des Instrumentalduos, wird auf diese Weise plötzlich akustisch in die Ferne gerückt.
"In nächster Nähe, so fern" - die Variation eines Filmtitels von Wim Wenders umschreibt treffend den akustischen Gestus des Projekts: Denn nicht nur entfernen sich die drei elektronischen Transformationen musikalisch von der ursprünglichen Improvisation, sondern sie klingen auch voneinander höchst verschieden, weil die drei Elektronik-Künstler mit unterschiedlichen Mitteln arbeiten: Ana Maria Rodriguez setzt häufig elektronische Filter ein, weshalb ihre Klangtransformationen sich oft in die abstrakten Regionen des Rauschens bewegen; Sabine Ercklentz verwendet ausschließlich analoge Klangwandler, die weit "fleischiger" klingen als die digitalen; und Christof Kurzmann zwingt kurze Segmente nicht selten in Loops, durch die er die originalen Klänge zeitlich ausdehnt. Bei aller Verschiedenheit dieser drei elektronischen Klangräume gewinnen die 4rooms dennoch eine innere Identität, weil die Ausgangssignale der beiden Instrumentalisten trotz aller elektronischen Verfremdungen immer noch die hörbare Basis bilden.
Das Publikum kann sich frei zwischen diesen vier Klangräumen bewegen und nach eigenem Gutdünken mehr oder weniger lang in ihnen verbleiben. Um auch nicht in Donaueschingen befindlichen Zuhörern radiophon einen Höreindruck von diesem Wandelkonzert zu vermitteln, war die Idee entstanden, die Donaueschinger Performance gleichzeitig von vier verschiedenen Radiostationen live übertragen zu lassen - womit die räumliche Intimität wieder ins Ferne gerückt wird, allerdings nur, um auch dort, in den trauten vier Wänden der Hörer, wieder die virtuelle Nähe der vier Klangräume spürbar zu machen: durch den Hessischen Rundfunk (HR2), den Österreichischen Rundfunk (Ö1), den Westdeutschen Rundfunk (WDR3) und den Südwestrundfunk (SWR2), die jeweils einen der vier Räume ausstrahlen.
Das gibt - zumindest den mit Satellitentunern ausgestatteten - Radiohörern die Möglichkeit, sich am Freitag, den 15. Oktober ab 23.05 Uhr virtuell durch die vier musikalisch höchst unterschiedlichen Klangräume zu switchen. Zusätzlich ermöglicht eine Webpage des SWR den Internet-Usern, sich via Live-Streaming durch die vier genannten Kanäle zu clicken. Die Originalklangquelle, das Duo Neumann/Buck, wird von WDR3 übertragen, deren elektronische Transformation durch Christof Kurzmann ist in Ö1 zu hören, jene durch Sabine Ercklentz in HR2 und jene von Ana Maria Rodriguez in SWR2.
In Donaueschingen selbst wurde eigens für diese Radioperformance am Freitag ein fünfter Raum - der kleine Turnsaal der Realschule - eingerichtet, in den die Live-Sendungen der vier Radiostationen direkt übertragen werden. Weil jeder dieser vier Klangräume als selbstständiges Kunstwerk zu betrachten ist, wird aber auch in diesem fünften Raum kein Gesamtmix der 4rooms zu hören sein. Vielmehr sind die Lautsprecher so positioniert, dass das Publikum auch im Turnsaal zwischen den einzelnen Sendestationen wandern muss. Die vier Räume sind dort einander zwar näher gerückt, gehen aber nicht ineinander auf. Was vor allem auch in den verschiedenen An- und Absagen der vier Radiostationen bei der Live-Übertragung einen zusätzlichen Reiz gewinnt.
In dieser Dialektik von nah und fern, die Neumanns und Kurzmanns 4rooms entwickeln, versteckt sich auch eine implizite Kritik an unserer Medienwelt. Bereits Marshall McLuhan hatte darauf aufmerksam gemacht, dass schon durch das Medium Sprache, das es uns ermöglicht, die Realität begrifflich zu erfassen, zugleich Distanz zur Welt geschaffen wird: Mit dieser Entwicklung wurde der Leser vom Schöpfer, vom ursprünglichen Sprecher sowie vom spezifischen sinnlichen Erleben abgetrennt, schreiben McLuhan und sein Ko-Autor Bruce R. Powers in The Global Village.
Diese Situation hat sich seit der Entwicklung der - von dem tschechischen Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser so genannten - "Techno-Codes" gravierend verschärft. Die Techno-Codes, zu deren Herstellung und Dechiffrierung elektronische Geräte nötig sind, haben es nach Flusser möglich gemacht, die linearen Codes der menschlichen Sprache wieder in Bilder zu übersetzen: in Techno-Bilder, die freilich jeder Unmittelbarkeit entbehren, da sie als Transformationen von Begriffen in Bilder die bereits von Sprache geschaffene Distanz zur Welt noch vergrößern und zugleich den Schein erwecken, ein unmittelbares Abbild der Wirklichkeit zu sein.
Der amerikanische Regisseur Peter Sellars hat diesen Sachverhalt der verfremdenden "Bilderflut" in vielen seiner Inszenierungen auf hintersinnige Weise anvisiert: just durch den Einsatz jener Technologie - Video, Film und Fernsehen -, deren fatale Folgen er kritisiert. Wie etwa in seiner Umsetzung von John Adams' Oper The Death of Klinghoffer, wo das szenische Geschehen, das sich auf einem Metallgerüst mit Spielflächen in schwindelnder Höhe oft in weiter Ferne ereignet, auf große Video-Screens übertragen wird, so dass dieses für das Publikum zwar optisch näher rückt, sich jedoch in Wahrheit allein durch die spezifische Auswahl der Details und deren willkürlichen Vergrößerungen in den Videozuspielungen medial vom tatsächlichen Geschehen auf der Bühne noch weiter entfernt.
Umgesetzt ins Medium der Musik demonstrieren die 4rooms etwas Ähnliches: wie durch elektronische Mittel eine Klangquelle so manipuliert werden kann, dass zwar noch eine Nähe zum ursprünglichen musikalischen Material festzustellen ist, dieses zugleich aber in weite musikalische Ferne gerückt wird. Einzig durch die physische Präsenz des Instrumentalduos, das in Neumanns und Kurzmanns Projekt gleichsam wie bei Sellars das Bühnengeschehen repräsentiert, kann der Zuhörer die Manipulationen als solche entlarven. Dass dadurch wieder eigene, selbstständige Kunstwerke entstehen, ist bloß eine List der Ästhetik. Wenngleich eine legitime, solange sie dadurch Aufklärung übt über die täglich erfolgenden Täuschungen unserer Medienwelt.
Reinhard Kager
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- Donaueschinger Musiktage 2004
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- Andrea Neumann, Christof Kurzmann, 4rooms