Donaueschinger Musiktage 1999 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1999: "...Kleinigkeit etwas mehr Meer..."

Stand
Autor/in
Michael Hirsch

Es gibt eine Tendenz innerhalb meiner Arbeit, einzelne Stücke übergeordneten Projekten oder Werkkomplexen unterzuordnen. Beim vorliegenden Stück "...Kleinigkeit etwas mehr Meer..." ist dies zwar nicht der Fall, aber immerhin gehört es einer Reihe von Kompositionen an, die alle dieselbe literarische Quelle als Bezugspunkt haben, nämlich das dichterische Schaffen von Ernst Herbeck (1920- 1991), einem "schizophrenen" Patienten des österreichischen Psychiaters Leo Navratil. Diese Reihe von Stücken vereinigt sich allerdings nicht im oben erwähnten Sinn zu einem Werkkomplex oder Zyklus, vielmehr stehen die Stücke in zum Teil gegensätzlichen ästhetischen Grundhaltungen und verschiedensten Gattungen kontrastierend nebeneinander:

Da ist die elektroakustische Raumkomposition Die Worte, die Mauern, das Ensemble-Stück Starren Träumen Wittern Zögern, die vorliegende Komposition "...Kleinigkeit etwas mehr Meer..." sowie die abendfüllende Oper Das stille Zimmer, die als Auftragswerk der Oper Bielefeld dort im Mai 2000 uraufgeführt wird. Natürlich gibt es Berührungspunkte, Weiterverarbeitungen von musikalischem Material, inhaltliche Bezüge und eben die gemeinsame literarische Quelle, dennoch sind die diversen Stücke nun keineswegs – wie es naheliegen würde – Vorstudien zum Großprojekt Oper, sondern autonome Stücke, die sich zumeist sogar geradezu antithetisch zu dem Opernprojekt verhalten.

So ist "...Kleinigkeit etwas mehr Meer..." in gewisser Weise das Gegenmodell zu der zum Teil gleichzeitig entstehenden Oper. Wird sich diese in Material und Besetzung durchaus auf die Gattungstradtion der Oper beziehen und die Gattungsbezeichnung "Oper" fast ungebrochen annehmen, so folgt die vorliegende Komposition einer grundsätzlich anderen, ja gegensätzlichen ästhetischen Konzeption: Die Großform von "...Kleinigkeit etwas mehr Meer..." ist ein offenes musikalisch-szenisches Feld, auf dem sich autonome Elemente zu einem nur vage übergeordneten Ganzen verbinden. Es ist ein polyphones Geflecht von Gattungen und Formen: Instrumentale Kammermusik, Sprachkompostition, musique concrète, Raumkomposition, Hörspiel und Theater bilden fragmentarische Teilelemente des Ganzen. Die Aufmerksamkeit des Hörers kann dabei – ähnlich dem Wechsel von Nahaufnahme und Totale beim Film – ständig wechseln zwischen der Wahrnehmung des Ganzen und der Beobachtung der einzelnen Teilelemente. Ein eigentliches musikalisches Zentrum gibt es nicht, oder der Hörer selbst mag in gewisser Weise das Zentrum sein. Dementsprechend ist auch die Raumkonzeption dezentralisiert. Spieler und Lautsprecher sind im Raum verteilt, teilweise auch außerhalb des Raumes, nicht um den Hörer in einen Raumklang einzuhüllen, sondern um die Autonomie der einzelnen Elemente noch plastischer zu profilieren.

Gleichwohl sind die Elemente nicht unabhängig und zueinander beziehungslos - wie etwa im Musiktheater Cages -, sondern sie sind bei aller Autonomie und materieller Unterschiedlichkeit stets kompositorisch aufeinander bezogen. Sie weben während des Stückverlaufs gewissermaßen ein unsichtbares Netz von Beziehungen, suchen die Balance oder den Kontrast zueinander, erzeugen gemeinsam eine spezifische Art von "Klima”.

Auf der szenischen Ebene allerdings nehmen die Parts der Sprecherin und des Sprechers schon eine mehr oder minder zentrale Position ein. Sie könnten vielleicht so etwas wie Identifikationsfiguren für den Zuschauer sein, weil sie nämlich auf einer zeichenhaft szenisch überhöhten und ritualisierten Ebene dasselbe tun wie er: Wahrnehmen, Sehen und Hören. Wahrnehmung, Hören, Sehen, Fühlen, Denken, Erinnern und Ahnen werden hier selbst zum Gegenstand der musiktheatralen Handlungen.

Dennoch wäre es falsch, das Stück als eine Art Zwei-Personen-Stück mit instrumentaler Begleitung zu sehen. Das Theatrale dieser Komposition manifestiert sich nämlich nicht so sehr durch die wenigen äußerlich als szenische Aktionen erkennbaren Vorgänge der beiden Schauspieler als vielmehr durch verschiedenste "Theatralisierungen" des musikalischen Materials. Dazu gehört neben der Verräumlichung auch die semantische Aufladung einzelner Partien. So hat etwa der Akkordeonspieler – wie auch die anderen Instrumentalisten – keinerlei szenische Aktionen auszuführen, doch ist die Komposition seiner fünf Solo-Passagen orientiert an der dramatischen Form des Monologs, deren Haltung und Gestus sie annehmen. Assoziative Ausdrucksanweisungen, die über das normale Maß von musikalischen Vortragsanweisungen hinaus ins Außermusikalische zielen, sollen diese Tendenz verstärken.

In der Konstellation der sieben Spieler dominieren verschiedene Paarbeziehungen: Sprecher/Sprecherin, Schlagzeuger A/Schlagzeuger B, Posaune /Tuba. Nur der monologisierende Akkordeonist ist auf sich allein gestellt, etabliert aber seinerseits häufig zweistimmige Strukturen. Außerdem treten alle Spieler in verschiedene Beziehungen zu der elektroakustischen Raumkomposition, die vom Zuspielband kommt.

Dieses Tonband, das im elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin (Leitung: Folkmar Hein) produziert wurde, liefert nun noch einen weiteren Aspekt des Theatralen: Die hiermit etablierte fast hörspielartige Klanglandschaft aus weitgehend konkreten Klangobjekten errichtet eine Art "akustisches Bühnenbild", in dem sich alle anderen Vorgänge der Komposition bewegen. Durch die Intimität einiger sehr nahe aufgenommener Mund- und Atemgeräusche wird diese Klanglandschaft zeitweise auch zum Innenraum einer imaginären Bühnenfigur, die sich möglicherweise mit den realen Bühnenfiguren oder auch dem Hörer selbst verbinden läßt.

Die vokalen Vorgänge auf dem Band bauen wiederum eine Brücke zum sprachlichen Material der beiden Schauspieler auf der Bühne. Im Gegensatz zur Oper Das stille Zimmer, wo Texte Ernst Herbecks in extenso zu einem Libretto montiert werden, ist hier die literarische Quelle auf die Rolle eines steinbruchartigen Materialreservoirs für die Sprachkomposition reduziert, und ist somit eher kryptisch präsent.

Ausgangspunkt hierfür ist insbesondere ein Wortschwall, den Ernst Herbeck unter dem Titel "Wörter, die mir einfallen" in die Schreibmaschine gehämmert hat und scheinbar völlig ungefilterte Assoziationsketten exponiert. Dieser Text wurde in kompositorische Prozesse überführt, die ihn teilweise völlig unkenntlich machen und eine Sprachmusik generieren, die ihrerseits neue Assoziationsketten hervorbringen, teilweise aber auch immer wieder Fragmente des Orginals verständlich durchschimmern lassen.

Diesem Text Herbecks, der auch als Ganzes auf dem Zuspielband erscheint, dort aber durch mehrfache Zerschneidung und Überlagerung zur undurchdringlichen Klangfläche wird, ist auch der Titel der Komposition...Kleinigkeit etwas mehr Meer..." entnommen. Er steht für das Prinzip der Assoziationskette, das mich seit einigen Jahren als kompositorisches Modell (auch für rein instrumentale Stücke) zunehmend interessiert. Es schafft die Möglichkeit, von einem musikalischen Objekt ausgehend auf verschiedenen Wegen assoziierend zum nächsten zu gelangen und so in Form von "Wucherungen" immer wieder neue Zusammenhänge zu schaffen und sukkzessive neues, unvorhergesehenes Material zu generieren.

Das Prinzip der Assoziationskette ist natürlich auch ein allgemeiner Topos für diese Art von Musiktheater: Das offene Feld von Assoziationen, das hier erzeugt wird , dieses Geflecht von Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken, könnte eine Abbildung sein von menschlichen Innenwelten und dadurch zu einem sehr intimen und persönlichen Theater nicht nur des Autors, sondern auch des Hörers werden.

Stand
Autor/in
Michael Hirsch