Donaueschinger Musiktage 2011 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2011: "Silent Exercices"

Stand
Autor/in
Christina Kubisch
Dachstuhlähnlichrs Bühnenbild mir mehreren Treppen und Leitern
Christina Kubischs „Silent exercices“ im Dachstock der Christuskirche.

Nur innerhalb der Stille kann man einen Klang ungestört hören. Von Kirchen nimmt man an, dass sie die besten Orte für diese Erfahrung seien. In Notre Dame in Paris gibt es einen Aufseher, der nichts anderes zu tun hat, als alle paar Minuten über ein Mikrofon in voller Lautstärke "Schschhhh – silence" zu rufen, während die Lautsprecher über den Köpfen der Besucher diese mit sakralen Gesängen berieseln. Stille wird verwechselt mit kitschigem Gedudel.

"Silent exercises" ist ebenfalls eine Störung der Stille und gleichzeitig eine Art Untersuchung des Begriffs per se. Im weißen Innenraum der Christuskirche wird eine Vielzahl von Lautsprechergruppen auf verschiedenen Ebenen verteilt – im großen, ovalen Mittelraum, in den Seitennischen, auf der Empore, neben der Orgel etc. Sie bilden, wie die Inseln eines Archipels, ein zusammengehöriges System von Lautsprecherinseln: Inselschwärme, Inselwolken, Inselreihen. Was sie verbindet, ist der semantische Gehalt des verwendeten Klangmaterials: das Wort "Stille", gesprochen in ca. 70 verschiedenen Sprachen der Welt. Dazu gehören Schriftsprachen, aber auch schriftlose Sprachen, wie sie z.B. manche afrikanische Stämme auch heute noch benutzen. Die Worte, die "Stille" bedeuten, klingen je nach Kulturkreis, Kontinent und Sprecher sehr unterschiedlich; oft sind sie lautmalerisch und wirken fast magisch.

Bühnenbild mit Treppen und Leitern
Christina Kubischs „Silent exercices“ im Dachstock der Christuskirche.

In der Installation bildet das Wortmaterial rhythmische Überlagerungen, dichte Felder von Klangfarben, miteinander kommunizierende Stimmgruppen oder auch Soli – ein Sprachgewirr, das nur eines gemeinsam hat: den Begriff Stille. Der Besucher kann im Raum umhergehen und sich diesen Sprechinseln nähern oder sie aus der Ferne verfolgen.
Die Installation setzt sich im oberen Teil der Kirche, der normalerweise nicht zugänglich ist, fort. Hier treffen die Besucher auf ein Raumgefüge, das der klaren und strengen Symmetrie des Kirchenraums diametral entgegensteht. Hier gibt es keine klaren Formen und Linien, sondern unübersichtliche Winkel, Ecken, Enge. Man kann sich nur langsam bewegen. Und es ist still.

Die einzige Lichtquelle ist eine Videoprojektion, die in die Dacharchitektur eingepasst wurde. Der Film zeigt Sequenzen von Sonogrammen der im unteren Raum gesprochenen Worte. Die nur in Grautönen erscheinenden Bilder gehen langsam ineinander über und ergeben in ruhigem Wechsel einen Fluss von abstrakten Linien und Flächen. Man kann sie als reines Bildmaterial sehen oder auch versuchen, die verschiedenen Sprachen wiederzuerkennen.
Ab und zu wird man durch ein Gitter in der ovalen Decke des Kirchenraums vielleicht Stimmen hören. Oder auch nicht. Nach der Rückkehr aus dem lautlosen, dunklen Dachboden wird man vielleicht die Stille anders wahrnehmen als vorher.

Stand
Autor/in
Christina Kubisch