Werke des Jahres 2013

Share the moment! - SWR2 NowJazz Session

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„Das ist eine meiner schönsten Erinnerungen an die Zeit, als ich noch klein war und in New Orleans heranwuchs: Ein paar von uns Jungs hörten beim Spielen plötzlich den Klang von Musik. Es war wie eine unerklärliche Naturerscheinung – wie das Nordlicht vielleicht. Wir hörten klar und deutlich, dass irgendwo Männer spielten, waren aber nie sicher, woher der Schall kam. Und so trotteten wir los, fingen an zu rennen ( ... ) und manchmal konnte es dir passieren, dass du eine ganze Zeit herumgelaufen warst und bist doch der Musik um keinen Schritt nähergekommen. Aber die Musik fand immer einen Weg, zu dir zu kommen. So oder so.“ Diese Kindheitserinnerungen des Banjo-Spielers Danny Barker umkreisen zwei zentrale Wesenszüge des Jazz, der in seiner Entstehungszeit, Anfang des 20. Jahrhunderts, noch nicht so hieß und auch noch nicht als eine stilistisch kategorisierbare Musikrichtung wahrgenommen wurde – wohl aber schon als eine besondere Musizierform: Barkerf beschreibt spontan auftauchende Klänge, scheinbar aus dem Nichts entstehend, seltsam flüchtig, aber gleichzeitig von einer erstaunlichen Präsenz: anziehend dadurch, dass sie sich auf rätselhafte Art und Weise jedem sofort wieder entziehen, der sie zu fassen sucht. Zuhören heißt hier, sich selbst neugierig auf einen nicht vorhersehbaren Weg zu begeben. Grundsätzlich betrachtet trifft das natürlich auch auf andere Formen von Kunstausübung und Kunstgenuss zu. Aber so radikal und konsequent wie im Jazz ist diese „Magie des Augenblicks“ wohl kaum anderswo immer wieder thematisiert worden. Insbesondere das Verhältnis von Publikum und Ausführenden gehörte und gehört zu einem wesentlichen Teil der Diskussion um diese Musik und – damit eng verbunden – von Anfang an auch die Frage, welche Umgebung, welcher Kontext für den Jazz als angemessen empfunden wird. Seine sogenannte „street credibility“ war ihm ja schon in den 1920er Jahren abhanden gekommen, als er schon längst nicht mehr vorrangig auf Straßenfesten, Mardi-Gras-Umzügen oder Beerdigungen stattfand, sondern auf Ausflugsdampfern, in Kneipen, Nachtclubs oder Varieté-Theatern. Viele der vormals semiprofessionellen Freizeitmusiker waren inzwischen hauptberuflich in Bands beschäftigt; Gelegenheitsjobs wurden zu längeren Engagements, auch Tourneen außerhalb der Heimatregion gehörten dazu. Aus heutiger Sicht mag es fast erstaunlich erscheinen, wie schnell sich der Jazz in seinen frühen Jahren international etablieren konnte. Als eigenständige afroamerikanische Kunstform wurde er allerdings damals weder in den USA noch in Europa akzeptiert. Vielmehr hatte man in der mitreißenden Wirkung seiner neuartigen Ausdrucksweise und in seiner für viele Weiße exotisch anmutenden Aura ein Unterhaltungspotential entdeckt, das großen kommerziellen Erfolg versprach.

Seinen legendären Höhepunkt als zeitgenössische Pop-Kultur erlebte der Jazz dann ja bekanntermaßen auch bald als jene Tanzmusik, die als „Swing“ eine echte Weltkarriere machte. Diese Popularität aber hatte ihren Preis: Zum einen blieb dadurch eine gewisse formale Konfektionierung und klangästhetische Standardisierung nicht aus. Zum anderen manifestierte sich hier eine scharfe Trennung von Publikum und Musikern in Konsumenten und Produzenten. Die einen (auf dem Tanzparkett) hatten sehr genaue Vorstellungen davon, was ihnen die anderen (auf der Bühne) bieten sollten. Von dem spontanen Erleben des einst noch so beschworenen „Nichtfassbaren“, von einer wirklich gemeinsamen Erfahrung völlig unabsehbarer magischer Momente, konnte hier keine Rede mehr sein. Diese Rollenverteilung frustrierte vor allem jene, die eben nicht als Entertainer verstanden werden wollten, sondern als Künstler. In den Ballhäusern hatte ihrer Meinung nach der Jazz nicht nur seinen ursprünglichen ungezügelten Charakter eingebüßt, sondern sich auch abhängig gemacht vom Urteil eines Kreises von ahnungslosen Ignoranten. Dem entzog sich die junge Generation des Bebop konsequenterweise seit Anfang der 1940er Jahre sehr bewusst, indem sie nach anderen künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten suchte. Es waren kleine Musik-Clubs wie Minton’s Playhouse, in denen Musiker wie Charlie Parker, Thelonious Monk, Charlie Christian oder Dizzy Gillespie ihre hitzige Gegenoffensive auf den moderaten Ton des Swing starteten – oft mit Jam Sessions so spät in der Nacht, dass unter den Zuhörern kaum noch zahlende Clubgäste waren, sondern vor allem die Kollegen, die auch noch auf die Bühne wollten. Man blieb gerne unter sich, in einem geschützten Raum, abseits von eingefahrenen Erwartungshaltungen und den massiv ablehnenden Reaktionen, die dieses neue künstlerische Selbstbewusstsein bei seinen Kritikern hervorrief. „For Musicians Only“ heißt ein späteres Album von Dizzy Gillespie, ein ironischer Titel, der aber doch symptomatisch ist für die lang anhaltenden Beziehungsprobleme von experimentellen Jazzmusikern und Jazzpublikum.

Die Orte, an die nach dem Auszug des Swing aus den Tanzsälen der Mainstream zog, blieben den Avantgardisten der improvisierten Musik zumeist verwehrt beziehungsweise wurden von ihnen teilweise absichtlich gemieden, auch weil es aussichtslos erschien, auf den großen Festivals oder in den traditionellen Jazzclubs Verständnis und einen passenden Rahmen für unkonventionelle Spielkonzepte zu erwarten. Auf Initiative von Musikerkooperativen entstanden ab den 1960er Jahren deshalb immer wieder neue Ideen für andere Präsentationsformen und alternative Spielstätten. Einen besonders prominenten Platz in der Jazzgeschichte haben hier zum Beispiel die aus ehemaligen Lagerhallen zu Wohn-Appartements umfunktionierten New Yorker Lofts eingenommen: von den jeweiligen Mietern zur Verfügung gestellte offene Kunsträume, in denen Wohnzimmer, Bar, Bühne und Zuschauerraum so nahtlos ineinander übergingen wie Proben in Sessions und Konzerte in Schallplattenaufnahmen. Der informelle Charakter solcher Veranstaltungspodien, die selten über längere Zeit existierten, ist inzwischen selbst zu einer Art Tradition geworden – improvisierte Experimentierwerkstätten in Galerien, leer stehenden Ladenlokalen oder kleinen Studios sind nach wie vor oft spannende Labore für visionäre musikalische Ideen und vor allem für das Erproben von Konzertsituationen, in denen das gemeinsame Erfahren des Spontanen Vorrang hat vor dem Akt des Konzertgebens und Konzerterlebens.

Die bei der diesjährigen NOWJazz Session auftretenden Gruppen – das Quartett Koch/Schütz/Studer & Shelley Hirsch und das Tobias Delius Sextett – haben in und für solche offenen Räume Performancekonzepte entwickelt, die auf eine sinnliche Erweiterung des Miteinanderkommunizierens abzielen. Sie verstehen Jazz als eine Kunstform, der ganz selbstverständlich das Alltägliche innewohnt und die sich selbst auch jederzeit auf das alltägliche Leben und Geschichtenerzählen einlassen will. Augenblickliche Erfahrungen nicht nur augenblicklich mitzuteilen, sondern die Kostbarkeit besonderer Momente mit anderen wirklich zu teilen: Das ist eine Herausforderung, der sich diese Musikerinnen und Musiker stellen – auch wenn ihrem Vorhaben mit Sicherheit dabei immer eine gewisse Unsicherheit zu eigen ist, die auf alle Beteiligten genauso aufregend wie verstörend wirken kann. „Share The Moment!“ ist eine Einladung, sich auf die Poesie des Unvorhersehbaren einzulassen.
Julia Neupert

Koch-Schütz-Studer

Koch-Schütz-Studer – das sind der Holzbläser Hans Koch (*1948), der Cellist Martin Schütz (*1954) und der Schlagzeuger Fredy Studer (*1948). Die Schweizer stehen seit über zwanzig Jahren als Trio auf der Bühne mit improvisierter elektroakustischer Musik, die sich allen gängigen stilistischen Zuordnungsbemühungen verweigert und für die sie selbst den Begriff „Hardcore Chambermusic“ erfunden haben. Brachiale Energie trifft auf kultivierte Spielhaltung, hochverdichtete Sounds auf transparente Linien, pulsierende Beats auf freie Improvisationen: Bei Koch-Schütz-Studer ist Kontrastfreude ästhetisches Programm – und Kontaktfreude künstlerisches Selbstverständnis. Immer wieder lädt das Trio Gäste ein. So entstanden unter anderem Kollaborationen mit traditionellen ägyptischen und kubanischen Musikern, mit DJs, Schriftstellerinnen und Schauspielern. 2010 erweiterte erstmalig Shelley Hirsch (*1952) das Ensemble zu einem Quartett. Die Vokalistin gehört seit den 1980er Jahren zu den prominentesten Vertreterinnen der New Yorker Downtown Szene und zu den experimentierfreudigsten Stimmkünstlerinnen unserer Zeit. Ihr Ausdrucksspektrum geht weit über das rein Vokale hinaus und ist eher als akustisch-theatralische Performance beschreibbar, in der heftige Brüche, Stimmungswechsel und Widersprüche beabsichtigt sind. Auch durch ihre stilistische Vielseitigkeit hat sich Shelley Hirsch als eine spannende Impulsgeberin für die Quartett-Konstellation mit Koch-Schütz-Studer erwiesen. Nach Auftritten in der Schweiz und Österreich treten die vier bei der NOWJazz Session der Donaueschinger Musiktage 2013 nun erstmalig in Deutschland auf.

Tobias Delius

Tobias Delius wurde 1964 in Oxford geboren und ist im Ruhrgebiet aufgewachsen. Danach lebte der Sohn eines argentinischen Vaters und einer deutschen Mutter kurz in Mexiko, lange in den Niederlanden; seine momentane Basis ist Berlin. Der Saxophonist und Klarinettist leitet seit 1990 sein eigenes Quartett (mit Tristan Honsinger, Han Bennink und Joe Williamson), spielt im legendären ICP-Orchestra und ist aktuell Mitglied verschiedener Gruppen wie dem Trio Booklet, dem Quartett Mrs. Conception oder Aki Takases Good Boys. 2003 wurde er mit dem wichtigsten niederländischen Jazzpreis, dem Boy Edgar Prijs ausgezeichnet. Als Improvisator steht Delius in einer Linie mit jenen Jazzmusikern, die aus der Tradition dieser Musik immer wieder aufs Neue vitale Energien freisetzen und für die „Interaktion“ ein entscheidender Spielimpuls ist. Als Bandleader interessieren ihn ungewöhnliche und spannungsreiche Konstellationen. Im Auftrag des SWR hat Tobias Delius für die NOWJazz Session der Donaueschinger Musiktage ein internationales Sextett zusammengestellt, dessen vorrangig in Berlin lebende Mitglieder sich zwar untereinander schon in verschiedenen Kontexten begegnet sind, die in dieser Besetzung aber noch nie vorher miteinander auf der Bühne standen. Dazu gehören die amerikanische Trompeterin Liz Allbee (*1974), die in Tübingen geborene Vibraphonistin Charlotte Birkenhauer (*1986), die aus den Niederlanden stammende Köchin Ciska Jansen (*1963), der im brandenburgischen Lübbe aufgewachsene Schlagzeuger Christian Lillinger (*1984) und der inzwischen in Stockholm lebende kanadische Bassist Joe Williamson (*1970).

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SWR