Donaueschinger Musiktage 2003 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2003: "Altar"

Stand
Autor/in
Volker Straebel

Ein Ganzes bedarf des Geistes, der es betrachtet: Es ist nur eines im Geist. Und ebenso erscheint der Fehler des Ganzen nur im Geist. Das "Ganze" und der -"Fehler des Ganzen" sind beide von subjektiven Elementen ausgehend, doch der "Fehler des Ganzen" ist untergründig real. Da das Ganze eine willkürliche Konstruktion ist, läuft die Wahrnehmung des Fehlers darauf hinaus, die willkürliche Konstruktion zu sehen; der "Fehler des Ganzen" ist nur untergründig real, weil er mittels einer Unvollkommenheit des Willkürlichen wahrgenommen wird; die Unvollkommenheit befindet sich wie die Konstruktion, im Irrealen: sie verweist auf das Reale.

Es gibt mithin:
bewegliche, veränderliche Fragmente: die subjektive Realität;
ein vollendetes Ganzes: der Schein, die Subjektivität;
einen Fehler des Ganzen: die Veränderung, die auf der Ebene des Scheins
stattfindet, jedoch eine bewegliche, fragmentierte, ungreifbare Realität enthält.

aus: Georges Batailles, Der Punkt der Ekstase

Drei Hörsäulen im Stadtbereich

An drei Orten im Stadtraum hat Peter Ablinger Hörsäulen errichten lassen, etwa zwei Meter hohe zylindrische Objekte, die jeweils mit einem Mikrofon-Paar und einem Kopfhörer ausgestattet sind. Über das geschlossene Kopfhörersystem ist zu hören, was gerade von den Mikrofonen aufgezeichnet wird. Es findet keine klangliche Veränderung oder zeitliche Verzögerung der jeweils aktuellen Klanglandschaft des Ortes statt, sieht man von der Eigengesetzlichkeit der Apparate ab.
Die Künstlichkeit der durch technische Vermittlung gegebenen Abhörsituation wird nicht geleugnet, aber auch nicht betont. Zwar wird der Hörer für die ihn ohnehin umgebene Klanglandschaft sensibilisiert, durch den technischen Apparat jedoch zugleich von ihr getrennt. In der dialektischen Anspielung auf komplexe Echtzeit-Systeme und aufwendige Klangübertragungen in Werken der jüngeren Musik und Klangkunst ist eine Fokussierung auf Hören und Hörer auszumachen.

Die "Drei Hörsäulen im Stadtbereich" bilden den ersten von drei Teilen des Stückes "Altar". Die anderen beiden Teile, "Komplementäre Studie" für Cello und Elektronik und "Drei Minuten für Orchester" nehmen auf diesen Bezug.

Komplementäre Studie

Die "Komplementäre Studie" für Cello und Elektronik verwendet Klangmaterial, das zuvor an den "Drei Hörsäulen im Stadtraum" aufgezeichnet wurde. Aus dem mittleren von drei in einer Reihe vor dem Publikum aufgestellten Lautsprechern klingt der Originalklang, aus den beiden Lautsprechern links und rechts sein Komplementär. Komplementär- und Original-Klang zusammen ergeben die dynamischen Maxima des in schmalen Frequenzbändern analysierten Originalklanges. Während die akustische Summe gleich bleibt, ändert sich über die Zeit das räumliche Verhältnis der beiden Klangebenen, so dass der Originalklang in der Mitte bald breiter, bald schmaler erscheint.

Durch dieses Klangfeld bewegt sich das Solo-Instrument dreimal in einer langsam aufsteigenden Tonfolge, deren Dynamik sich jeweils an den akustischen Maxima der überschrittenen Frequenzen orientiert. Das Cello agiert so als "auskomponierter Hörer" (Ablinger), der mit seiner Aufmerksamkeit systematisch das gesamte Frequenzspektrum abtastet.

Die "Komplementäre Studie" ist der zweite von drei Teilen des Stückes "Altar". Es nimmt, ebenso wie die "Drei Minuten für Orchester", auf die "Drei Hörsäulen im Stadtbereich" Bezug.

Drei Minuten für Orchester

Die "Drei Minuten für Orchester" verwenden Klangmaterial, das zuvor an den "Drei Hörsäulen im Stadtraum" aufgezeichnet wurde. Das Stück gliedert sich in drei Teile, die jeweils spiegelsymmetrisch um die 40 Sekunden dauernde Zuspielung einer Hörsäulen-Aufnahme angeordnet sind: Klaviereinsatz, Orchestereinsatz, Tonzuspielung, Ende des Orchesterspiels, Ende des Klavierspiels.

Das Orchester spielt die akustische Analyse der eingespielten Klanglandschaft in einer Auflösung von 2 1/2 Sekunden (was einer Samplingrate von 0,4 Hz entspricht). Das Klavier bewegt sich in jedem Teil, ähnlich dem Cello in der "Komplementären Studie" aus "Altar", langsam aufsteigend durch seinen Frequenzbereich. Orchester wie Klavier verwenden einzig die sieben Töne c, d, 1/4 Ton unter e, f, g, 1/4 Ton unter a, b, in die die Oktave in allen Lagen gleichmäßig geteilt wurde. Das Orchester "begleitet" die Stadtgeräusche der Zuspiel-CD, nicht umgekehrt.

"Drei Minuten für Orchester" ist der dritte von drei Teilen des Stückes "Altar". Es nimmt, ebenso wie die "Komplementäre Studie", auf die "Drei Hörsäulen im Stadtbereich" Bezug.

"Altar" besteht aus drei Stücken unterschiedlicher Genres, die ihrerseits jeweils in drei Teile oder Formabschnitte gegliedert sind. Neben dem gemeinsamen Materialbezug unterstreicht diese formale Entsprechung den Zusammenhang der Einzelwerke, deren "Ganzes" sich erst in der ästhetischen Rekonstruktion des Rezipienten ergibt. Peter Ablinger zitiert in diesem Kontext Cusanus (15. Jahrhundert): "Was auf der Ebene der Einheit zusammengefaltet eins ist, wird auf der sinnlichen Ebene der Vielfalt notwendig auseinandergefaltet."

Dreimal drei

Den Titel "Altar" bezieht Peter Ablinger zum einen auf die Dreiteiligkeit seines Stückes – 1. Teil: drei Hörsäulen im Stadtbereich; 2. Teil: Komplementäre Studie, 3. Teil: Drei Minuten für Orchester. Auch diese drei Teile selbst sind in sich wieder dreiteilig. Weiterhin hat der Begriff "Altar" für ihn auch die Konnotation von etwas Abweisendem und Fernen – eine Ferne, deren Überwindung Mühe erfordert.

1. Teil: Drei Hörsäulen im Stadtbereich

Die drei Hörsäulen im Stadtbereich generierten das gesamte Material des Projekts. Es handelte sich dabei um selbstreflexive Geräte, ausgestattet mit Mikrophon und Kopfhörer. Das Mikrophon nahm jene Dinge auf, die der Hörer in verstärkter Form über den Kopfhörer hören konnte. Damit ist diese Installation auch ein Beitrag zum Thema "medial vermittelte Umwelt".

2. Teil: Komplementäre Studie

Die "Komplementäre Studie" für Cello und Elektronik verwandte Klangmaterial, das zuvor an den "Drei Hörsäulen im Stadtraum" aufgezeichnet wurde. Aus dem mittleren von drei in einer Reihe vor dem Publikum aufgestellten Lautsprechern erklang der Originalklang der Hörsäule, aus den beiden Lautsprechern links und rechts sein Komplementär. Durch dieses Klangfeld bewegte sich das Solo-Instrument dreimal in einer langsam aufsteigenden Tonfolge, deren Dynamik sich jeweils an den akustischen Maxima der überschrittenen Frequenzen orientiert. Das Cello agierte nach Ablingers Vorstellungen als "auskomponierter Hörer", der mit seiner Aufmerksamkeit systematisch das gesamte Frequenzspektrum abtastete.

3. Teil: Drei Minuten für Orchester

Im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage erklang dann der dritte Teil von "Altar", die "Drei Minuten für Orchester". Sie verwenden Klangmaterial, das zuvor an den "Drei Hörsäulen im Stadtraum" aufgezeichnet wurde. Das Stück gliedert sich in drei Teile, die jeweils spiegelsymmetrisch um die 40 Sekunden dauernde Zuspielung einer Hörsäulen-Aufnahme angeordnet sind: Klaviereinsatz, Orchestereinsatz, Tonzuspielung, Ende des Orchesterspiels, Ende des Klavierspiels.
Das Orchester spielt die akustische Analyse der eingespielten Klanglandschaft in einer Auflösung von 2 1/2 Sekunden. Das Klavier bewegt sich in jedem Teil, ähnlich dem Cello in der "Komplementären Studie" aus "Altar", langsam aufsteigend durch seinen Frequenzbereich. Orchester wie Klavier verwenden einzig die sieben Töne c, d, 1/4 Ton unter e, f, g, 1/4 Ton unter a, b, in die die Oktave in allen Lagen gleichmäßig geteilt wurde. Das Orchester "begleitet" die Stadtgeräusche der Zuspiel-CD, nicht umgekehrt.

Stand
Autor/in
Volker Straebel