Was macht ein Kunstmuseum bei den Donaueschinger Musiktagen? Die Antwort ergibt sich aus dem Interesse zweier Institutionen an den medienübergreifenden Erlebnismöglichkeiten der Künste. Kolumba ist das Kunstmuseum des Erzbistums Köln, dessen im vergangenen Jahr eröffneter Neubau ebenso internationale Resonanz gefunden hat wie die in ihm sichtbar werdende eigenwillige Museumskonzeption. Mehrfach war Kolumba in den vergangenen Jahren eingeladen, sich als Gast auf die spezifischen Bedingungen fremder Orte einzulassen. In Donaueschingen kommt nun ein Kunstwerk zur Aufführung, das aufgrund seiner Struktur mit herkömmlichen Formaten nicht adäquat ausgestellt werden kann.
"Creation – Fünf Konstellationen zur Schöpfung" lautet der Titel des monumentalen druckgrafischen Mappenwerkes, das der Liechtensteiner Künstler Martin Frommelt von 1989 bis 1999 geschaffen hat. Es setzt zweifellos einiges Gottvertrauen voraus, am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts unter diesem Titel einen Zyklus zum Thema "Schöpfung" anzugehen. Fast täglich informieren neue Berichte darüber, auf welche Weise der Mensch in das gegebene Regelwerk eingreift, es nach Belieben verändert und sich dabei über ethische und religiöse Traditionen hinwegsetzt. Unsere Gegenwart hat die Science Fiction, die antizipierte Zukunft der Wissenschaft, bereits hinter sich gelassen. Was also könnte anachronistischer sein als die künstlerische Bearbeitung dieses seit dem Verlust der geozentrischen Weltsicht kaum aktualisierten Themas in einem außergewöhnlich umfangreichen Mappenwerk? Allein dessen Untertitel Fünf Konstellationen zur Schöpfung verweist jedoch auf einen der Tradition entgegengesetzten Ansatz, denn "Konstellation" bedeutet "Lage" und "Gruppierung" kennzeichnet eine Situation, in der verschiedene Faktoren aufeinandertreffen und definiert die Fügung der hier getroffenen Auswahl als eine unter anderen Möglichkeiten.
In seiner Offenheit entspricht der Untertitel der gewählten Form des ungebundenen Buches, dessen Raum sich nicht linear auffächert, vielmehr als Überlagerung entfaltet. Das Werk umfasst 214 mehrfarbige Radierungen auf 107 Bögen im Format 80 x 120 cm. Die vorgenommene Ordnung der fünf Konstellationen dient allenfalls als Modell kontinuierlicher Lesbarkeit, während die Beobachtungen der Wiederholungen und Durchlässigkeiten, der formalen Verwandtschaften und ästhetischen Brüche innerhalb des gesamten Zyklus wesentliche, diskontinuierliche Einschübe beisteuern. Die "Creation" muss also geblättert werden, um ihren Reichtum zu entfalten.
Bei der "Aufführung" des Werkes, das auf fünf Tischen liegend von den Kunstvermittlern des Museums – sozusagen stellvertretend – geblättert wird, kann sich der Zuschauer frei im Bühnenraum bewegen und im langsamen Nacheinander der Blattfolgen Entdeckungen machen, die sich als Summe seiner Beobachtungen zu einem Bild fügen. Martin Frommelt verdichtet seine Eindrücke im Streit mit der Abstraktion auf eine nahezu archaische und kulturell nicht gebundene Zeichensprache. Kreatürliches wird in diese Strukturen sehr behutsam eingewoben oder löst sich prozesshaft aus ihnen heraus: Schlangen als über das Blatt mäandernde Striche, sich bedrohlich aufschwingende Vögel, im Eis oder in der Zeit erstarrte Fische und lauernd schreitende Raubtiere. Überraschend, wie wörtlich sie in der völligen Abstraktion ihre konkreten Spuren hinterlassen und den geistigen Raum mit warmem Atem füllen.
Mit "Creation" zieht Frommelt die Summe des künstlerischen Prinzips: Der zu beobachtende Stilpluralismus, die betonte Uneinheitlichkeit der Handschrift wird darin zum wesentlichen und notwendigen Merkmal eines zeitgenössischen Standortes. "Kunst also ist Wahrnehmung von Gestalt – aber durch Schaffung von Gestalt. Nur das, was der Künstler machen kann, macht er auch wahrnehmbar. Und wenn es ihm nicht glückt, ihm Gestalt zu geben, so ist das Wahrgenommene verloren; es ist nicht vermittelt. Es ist in gewisser Weise nicht wahrgenommen", schrieb der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, und weiter: "Wer aber immer nur von der Beweisbarkeit ausgeht, macht sich bestimmte Erfahrungen beinahe unmöglich. Um diese affektive Problematik geht es meines Erachtens auch in dem Konflikt zwischen Mythos und Wissenschaft. […] Ich behaupte, die Entwicklung der Wissenschaft, insbesondere derjenigen Wissenschaft, die meine Heimat ist, nämlich der Physik, geht dahin, dass wir die Spannung zwischen dem Beweisbaren und dem Nichtbeweisbaren in einer gewissen Weise sichtbar machen, erkennbar machen." (Kunst – Mythos – Wissenschaft, zit. nach: Carl Friedrich v. Weizsäcker, Zeit und Wissen, München 1995, S.429-444.)
In seinem Anspruch auf Universalität erinnert Frommelts Werk an die vergleichbar umfangreichen Weltchroniken, vor allem an die 1493 in lateinischer Sprache und im gleichen Jahr noch in deutscher Übersetzung erschienene Weltchronik des Nürnberger Humanisten Hartmann Schedel, die mit 1809 Illustrationen einen Höhepunkt der Buchkunst markiert. Doch mehr noch als die enorme editorische Leistung überzeugt die künstlerische Haltung, mit der Frommelt einen zehnjährigen Schaffensprozess durchsteht, um am Ende nicht nur Summe ziehen zu können, sondern auch ein Hoffnungszeichen dafür zu setzen, dass Glaube und Wissen am Ende dieses Jahrhunderts nicht unvereinbar sind.
Die fünfstündige Kontinuität des Blätterns und Betrachtens korrespondiert mit dem gesprochenen Wort, das ebenso wie das grafische Werk in den Raum hinein wirken soll: Sieben Schauspieler, die sich mit den Betrachtern frei im Raum bewegen, lesen eine Auswahl verschiedener Texte, die den Konstellationen jeweils zugeordnet werden. Konstellation I (Raum, Ordnung und Zeit): Passagen aus den Werken von Rupert Riedl, die selbständiger Teil der Creation sind (Die Strategie der Genesis, München/Zürich 1976/1984 und Evolution und Erkenntnis. Antworten auf Fragen unserer Zeit, München/Zürich, 1982ff.); Konstellation II (Vernetzungen und Kräfte): Passagen aus den Weisheitsbüchern des Alten Testamentes (Sprüche Salomos / Buch Kohelet); Konstellation III (Elemente und Sinnliches): Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux; Konstellation IV (Botschaften und Sinn): Monolog der Molly Bloom aus James Joyce, Ulysses; Konstellation V (Transzendenz und Reflexion): Raimundus Lullus, Über die einhundert Formen, Vierter Abschnitt aus Die neue Logik. Die nahezu endlose Struktur dieser Texte und ihre wechselnden Inhaltsebenen verbinden sich zu einer vielstimmigen Aussage menschlicher Existenz, die die visuellen Eindrücke der Creation überlagert.
Gemeinsam ermöglichen Wort- und Bildebene eine enzyklopädische Betrachtung von Wirklichkeit, die sie in der Addition gesehener, gehörter und erinnerter Fragmente als eindrucksvolles Panorama in uns ausbreiten.
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