Über Hintergründe, Zusammenhänge und Kontinuitäten rechter Gewalt diskutieren Thomas Fischer und Holger Schmidt mit Wolfgang Zimmermann, Leiter des Generallandesarchivs Karlsruhe, und Heike Borufka, Gerichtsreporterin des Hessischen Rundfunks.
Matthias Erzberger — Ermordet als „Vaterlandsverräter“
Am 26. August 1921 erschüttert ein Mord die noch junge Weimarer Republik. Matthias Erzberger, ein Politiker der katholischen Zentrumspartei, wird bei einem Waldspaziergang im Erholungsurlaub erschossen. Und allen ist klar, warum: im November 1918 hatte Erzberger das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne unterzeichnet.
Ein Abkommen, das den Ersten Weltkrieg faktisch beendete und somit die Niederlage für das Deutsche Reich endgültig besiegelte. In rechtsradikalen Kreisen galt Erzberger seitdem als „Novemberverbrecher“ und „Vaterlandsverräter“.
Trotzdem war Erzbergers politische Karriere rasant: Er war Vizekanzler, Reichsfinanzminister und Abgeordneter im Reichstag — eine wirklich wichtige politische Stimme der Weimarer Republik. Er baute den neuen Staat maßgeblich mit auf und sprach sich für den Versailler Vertrag aus. Das gab dem Hass auf Erzberger neues Futter — nun allerdings nicht mehr ausschließlich in rechtsextremen, nationalistischen Kreisen.
Die „Dolchstoßlegende“
Erzberger erntete zu diesem Zeitpunkt Hass aus vielen Bereichen der Gesellschaft. Viele Deutsche hielten damals die sogenannte „Dolchstoßlegende“ für den „wahren“ Grund der Niederlage im Ersten Weltkrieg — diese besagte, dass die „im Felde unbesiegte“ Armee hinterrücks von Sozialdemokraten und zivilen Kräften verraten und an den Feind ausgeliefert worden sei.
Allen voran hegte jedoch eine geheime Gruppierung Rachepläne gegen den Politiker Erzberger: die rechtsradikale „Operation Consul“. Eine Gefahr, die auch ihm nicht entging. Im gesamten Deutschen Reich gab es Hetzkampagnen gegen ihn.
Am Vormittag des 26. August 1921 ereignete sich schließlich das, was Erzberger selbst schon lange befürchtet hatte. Die ehemaligen Marineoffiziere Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz erschossen den Politiker bei einem Waldspaziergang. Erzbergers Freund Carl Diez, damaliger Reichtstagsabgeordneten für Konstanz und bei der Tat an seiner Seite, überlebte den Anschlag.
Erzbergers Mörder konnten mit der Hilfe der Münchener und Salzburger Polizeipräsidenten außer Landes fliehen und kehrten erst etliche Jahre später wieder nach Deutschland zurück. Doch verhaftet wurden die Mörder dann nicht.
Die Mörder werden als Helden gefeiert
Bei ihrer Rückkehr feierte die Naziproaganda sie als Helden und gewährt sowohl Tillesen als auch Schulz volle Amnestie. Warum? Mit der Machtergreifung der Nazis änderte sich das Deutsche Verständnis von Schuld und Unschuld schlagartig. Verbrechen, die dem Aufstieg der NSDAP dienten, wurden nun gefeiert und prämiert.
Erst 1945 konnten Tillessen und Schulz von der amerikanischen Militärpolizei gefangen genommen werden. Im Februar 1947 wurde der Mörder Tillessen schließlich im Rahmen der Rastatter Nazi-Prozesse verurteilt. Ein Urteil das als wegweisend gilt – denn eigentlich war Tillessen ja von der Naziregierung freigesprochen worden.
Verurteilt und doch bald wieder in Freiheit
Doch das Urteil bedeutete konkret doch recht wenig: Wie so viele andere verurteilte Verbrecher des NS-Regimes, musste auch Tillessen seine Strafe nicht in vollem Umfang absitzen und wurde erneut amnestiert. Von den verhängten 15 Jahren Freiheitsstrafe verbrachte er so lediglich fünf im Gefängnis. Ähnlich erging es auch dem damaligen Mittäter Heinrich Schulz.
1984 starb Heinrich Tillessen, der Mörder von Matthias Enzberger – in Freiheit.
Walter Lübcke — Hassfigur der Neo-Nazis
98 Jahre nach der Ermordung von Matthias Erzberger: Der CDU-Politiker Walter Lübcke sitzt nachts auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen. Er raucht eine Zigarette, hat sein iPad bei sich. Ganz in der Nähe von Lübckes Haus findet gerade ein Volksfest statt, die Geräusche wehen bis auf Lübckes Terrasse. Was Walter Lübcke nicht ahnen kann: Im Dunkel der Nacht beobachtet ihn bereits sein Mörder.
Etwa seit 2015 war Lübcke immer wieder Ziel von rechter Hetze. Als Regierungspräsident von Kassel setzte er sich regelmäßig für die Rechte von Geflüchteten ein, fand deutliche Worte gegen Neo-Nazis. So auch am 14. Oktober 2015.
An dem Tag hält Lübcke eine Veranstaltung in Lohfelden bei Kassel ab, um über eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete zu informieren. Doch die rechte Szene hat sich unter die Teilnehmenden gemischt und stört mit Zwischenrufen. Lübcke hat eine klare Einstellung dazu und formuliert diese in einem klaren und deutlichen Satz:
Er beginnt Lübcke auszuspionieren
Auch der rechtsextreme Markus H. besucht diese Veranstaltung, filmt mit und stellt schließlich das Video des klaren Statements von Lübcke ins Internet. Das Oberlandesgericht Frankfurt wird später keine Hinweise für eine direkte Beteiligung von Markus H. an dem Mordfall Lübcke feststellen. Bei Stephan Ernst, einem Freund von Markus H., sieht das anders aus. Ernst lässt sich aufstacheln, steigert sich immer weiter in rechte Ideologien hinein und beginnt sogar, den Politiker Walter Lübcke auszuspionieren.
Vier Jahre später wird er es sein, der sich aus dem Dunkel an den 65-jährigen Walter Lübcke heranschleicht. Und Stephan Ernst wird es sein, der schießt.
Der Täter wird überführt
Die Polizei findet an Walter Lübckes Leiche DNA-Spuren von Ernst – die wichtigste Spur, die zu ihm führt. Doch als Stephan Ernst ernst schließlich als Tatverdächtiger identifiziert wird, ergibt sich schnell ein gruseliges Bild. Denn Ernst hat eine lange rechtsradikale Vergangenheit: Mit 15 setzte er das Haus eines türkischen Mitschülers in Brand, mit 18 verletzte er einen Imam lebensgefährlich und noch im gleichen Jahr ließ Ernst vor einer Flüchtlingsunterkunft eine Bombe detonieren.
Im Januar 2021 sprach das Oberlandesgericht Frankfurt Stephan Ernst des Mordes an Walter Lübcke schuldig und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Das Gericht stellte außerdem die besondere Schwere der Schuld fest.
Welche Parallelen gibt es?
In „Sprechen wir über Mord?!“ unterhalten sich Thomas Fischer und Holger Schmidt mit Wolfgang Zimmermann, dem Leiter des Generallandesarchivs Karlsruhe, und der Gerichtsreporterin Heike Borufka vom Hessischen Rundfunk über die beiden Attentate. Lassen sich Parallelen erkennen? Welche Hintergründe hatten die Morde? Erzberger wie Lübcke wurden zu Feinbildern der rechten Szene stilisiert. Doch kann man die Taten vergleichen?
Geschichte wiederhole sich nicht, aber auf Parallelen könne man schon mal schauen, sagt Wolfgang Zimmermann dazu.