Freunde sind die neue Familie – das sagen zumindest Soziologen. Viele Menschen leben abseits von Familie und Beziehung zusammen. Die Beispiele sind mannigfaltig – alte Freunde, deren Partner schon verstorben sind, die sich aber versprochen haben, einander zu pflegen. Oder Alleinerziehende, die das Dating leid sind und sich gegenseitig auch ohne Liebesbeziehung unterstützen wollen.
Auch Wohngemeinschaften, die früher vielleicht eher mit der Studentenzeit assoziiert wurden, sind in teuren Städten und mit Blick auf die Work-Life-Balance beliebte Lebensentwürfe für das Berufsleben geworden. Wenn das Verhältnis aus Geben und Nehmen ausgeglichen ist, sind Freundschaften unsere positivsten Beziehungen. Für viele bedeutet das auch, Verantwortung zu übernehmen.
Künstler der Akademie Stuttgart mit Ausstellung über Freundschaft
Die Ehen der Großeltern waren oft Zweckgemeinschaften
Die romantische Liebe hat es subjektiv betrachtet in unserer oft Ich-zentrierten Gesellschaft heute schwerer. Es ist paradox – alle wünschen sich die „große Liebe“ – und fragen sich, warum viele Ehen der Großeltern so lange gehalten haben. Dabei hat die Erklärung nicht immer mit großen Gefühlen zu tun. Viele Ehen waren Zweckgemeinschaften.
Und auch wenn der Beziehungsalltag mit Romantik oft wenig zu tun hat und hatte – eine Trennung war für viele keine Option aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeit oder sozialen Drucks.
Die Verbindlichkeit „vergoldeten“ Ehen kann heute Vorbild sein
Vorbild sind die heute vielleicht sogar „vergoldeten“ Ehen aber vielleicht in der Hinsicht, dass sie eine verbindlichere Entscheidung waren. Vor lebenslangen Entscheidungen drücken sich aber heute viele – die Alternativen, die Möglichkeiten sind so breit gefächert – was könnte man da noch verpassen?
Bei Freundschaften sind viele eher bereit, im Laufe der Jahre an der Kommunikation und ihrer Verbindlichkeit zu arbeiten. Man hat einen anderen Maßstab, ist großmütiger mit Blick auf Eigenarten und Defizite des anderen.
Demografische Entwicklung führt zu neuen Beziehungsmodellen
Unsere Gesellschaft sieht anders aus als vor 50 Jahren. Welche Rolle da Freundschaften spielen, erklärt Soziologe Janosch Schobin an einem konkreten Beispiel: „Das Einzelkind von zwei Einzelkindern hat nun mal keine Geschwister, aber auch keine Tanten und Onkel, keine Cousins und Cousinen“.
Das bedeute, dass in Gesellschaften wie unserer, in der die Geburtenraten Ende der 1960er-Jahre stark sanken, Verwandte bei einigen eine rare Sache geworden seien. Freundinnen und Freunde ersetzen da die Großfamilie von früher.
Der Soziologe Janosch Schobin arbeitet an der Universität Kassel und an dem Projekt „Kompetenznetz Einsamkeit“ des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main. Die Zahl der Menschen, die von Einsamkeit betroffen sind, nimmt weltweit zu. Das liege auch daran, dass es individualisiertere Lebenszuschnitte gäbe, so Schobin.
„Spaziergänge gegen Einsamkeit“ in Großstädten nachgefragt
Man lebe nicht mehr sein ganzes Leben am gleichen Ort, wechsele mehrfach sein soziales Umfeld. Das hat Folgen. Gerade in Großstädten finden sich jetzt immer mehr Menschen zu gemeinsamen Aktionen wie „Spaziergänge gegen Einsamkeit“ zusammen – und wollen so neue Freundschaften knüpfen. Eine der Lehren, die viele aus der Corona-Zeit gezogen haben, ist die Bedeutung von guten Freunden. Und: Eine unglückliche Beziehung schützt langfristig auch nicht vor Einsamkeit.
Frauen sind Freundschaften wichtiger als Männern
Gute Freunde sind den meisten Menschen enorm wichtig – nach den Ergebnissen der Allensbacher Marktanalyse von 2022 sogar wichtiger als alles andere. Mit knapp 85 Prozent stehen gute Freunde und enge Beziehungen auf dem Spitzenplatz persönlich besonders wichtigen und erstrebenswerten Dinge. Eine glückliche Partnerschaft landet bei nicht einmal 75 Prozent. Und aktuelle Statistiken enthüllen: Entgegen gängiger Klischees sind Frauen Freundschaften wichtiger als Partnerschaften.
Pflege von Freunden im Alter noch unüblich
Mit Blick auf die Versorgungslage im Alter gibt es die große Hoffnung, dass sich jetzt gerade in Bezug auf die Pflege etwas verändert. Dass die letzte Lebensphase zusammen mit Freunden bewältigt werden kann, ist mit Blick auf die Statistiken noch sehr selten, sagt Soziologe Janosch Schobin. Das heiße nicht, dass Freunde nicht schon heute wichtig wären, gerade Hilfstätigkeiten würden von ihnen erledigt werden. Wenn es aber um leibesbezogene Pflege wie Waschen geht, sehe man das praktisch gar nicht.
Neue Rechtsform der „Verantwortungsgemeinschaft“
Die Realität sieht heute vielerorts ganz anders aus, als das, was das Familienrecht als Norm beschreibt. Vielen, die sich in alternativen Lebensmodellen zusammengefunden haben, fehlt aber die Rechtssicherheit, wenn es hart auf hart kommt.
Zukünftig sollen sie rechtlich eine sogenannte „Verantwortungsgemeinschaft“ bilden können. Als „familienrechtliche Innovation“ bezeichnet das die Partei von Justizminister Marco Buschmann (FDP) – beim Auskunftsrecht gegenüber Ärzten oder bei anderen Vertretungsfragen soll vieles einfacher werden. Aber sie soll keine Alternative zur Ehe sein.
Alternative Lebensmodelle rechtlich noch nicht gleichgestellt
Kritiker bemängeln, dass es zwar gut sei, dass so jetzt alternative Lebensmodelle diskutiert werden, aber dass alles, was echte Verantwortungsbeziehungen juristisch mit ausmache – also ein gesetzliches Erbrecht, steuerlichen Vergünstigungen, gegenseitigen Unterhaltsansprüche und so weiter – ausgeklammert werde.
Seit Mitte der 2000er-Jahre sei es so, dass die Freundschaft „durch die Hintertüre“ mit Pflichten belastet wurde, meint Soziologe Janosch Schobin, Stichwort „Bedarfsgemeinschaft“. Jetzt langsam gäbe es die Entwicklung, Freundschaft auch mit Rechten auszustatten. Dadurch entstünden durch den besonderen Status der Ehe aber viele juristische Zwickmühlen.
Rechstform muss praxistauglich sein
Aus dem Eckpunktepapier der Regierung könne Schobin aktuell noch nicht herauslesen, was sich zum Beispiel in Bezug auf die Pflege mit der Verantwortungsgemeinschaft ergeben könnte: „Da liegt ganz vieles im Detail. Wenn das gut gemacht wird, dann kann das wirklich Leuten eine gewisse Sicherheit und neue Möglichkeiten bringen. Wenn es zu praxisfern wird, kann sich niemand in diesen Lebensformen arrangieren. Das geht finanziell nicht auf. Dann wird die Verantwortungsgemeinschaft ein Ladenhüter.“
Rechtsrahmen für freundschaftliche Verantwortung muss sich ändern
Es wird sich aber noch viel tun in den nächsten Jahren, davon ist der Soziologe überzeugt. Das Recht reagiere immer sehr zeitverzögert auf neue Lebensmodelle. Die Lebenswirklichkeit vieler sei seiner Ansicht nach schon dreißig Jahre weiter als der Rechtsrahmen. Der Druck aus der Lebenswelt auf die Politik aber steigt.
Zum Beispiel seien Menschen, die ohne Kinder altern, eine große Lobbygruppe in Deutschland, die sich dafür einsetzen werde, dass auch Freunde im Alter füreinander sorgen können, ohne finanzielle Einbuße hinnehmen zu müssen. Die Diversität der Lebensmodelle werde immer größer. Der aktuelle Rahmen aber könne diese Modelle nicht gut stützen und abbilden. Solche Anpassungsprozesse sind schmerzhaft für eine Gesellschaft.