Schon die Buddenbrooks waren cringe
Das Jugendwort des Jahres 2022 ist einmal mehr ein Anglizismus: „Smash“ landete in diesem Jahr auf Platz 1, gefolgt von „Macher“ und „bodenlos“. Aber was bedeuten diese Worte eigentlich, die Jahr für Jahr bei älteren Personen Begriffsstutzigkeit hervorrufen?
Damit Sie sich nicht mit fadenscheinigen Erklärungstexten herumschlagen müssen, finden Sie hier die Jugendworte vergangener Jahre in Beispieltexten aus der klassischen Literatur wieder. Sie werden sehen: Schon Thomas Manns „Buddenbrooks“ waren cringe.
2022: Faust will Gretchen smashen
„Smashen“ heißt, mit jemandem etwas auf ganz lose Art anzufangen. Von Gelegenheitssex dieser Art träumt auch der junge Faust, als er auf der Straße auf ein unschuldiges Mädchen namens Gretchen trifft. Angetan von Gretchen ergreift Faust seine Chance:
Faust: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?“
Margarethe: „Bin weder Fräulein, weder schön. Kann ungeleitet nach Hause gehen.“
Sheesh, das war ein pass: Gretchen hat Faust eine Abfuhr verpasst. Völlig eingenommen von Gretchen verlangt Faust ganz lüstern von seinem Wettpartner Mephisto, dass Gretchen noch in der selben Nacht zu seiner Geliebten werden solle. Kurz: Er würde sie gerne smashen. Eine Liebelei ohne Liebe, sie sei ja schließlich schon 14 Jahre alt. Leider ist da nichts zu machen und Fausts Smash-Absichten werden vertagt – vorerst.
2021: Bei Alois Permaneder cringt nicht nur die Frau Konsulin
Tony Grünlich, geborene Buddenbrook, hat grade wieder ihr Dating-Profil aktualisiert, da denkt sich Bayern-Babo Alois Permaneder: „Nix wie ran“. Aber statt zu Tony selbst, fährt er bei Mama Buddenbrook vor. Und die findet ihn und seinen Dialekt mega-sus.
„Geltn’s, da schaun’s!“ – „Wie beliebt?“ – „Geltn’s, da spitzen’s!“ – „Nett!“ – „Da tun sich die gnädige Frau halt… wundern!“ – „Ja, ja, mein lieber Herr Permaneder, das ist wahr!“ – „Es is halt a Kreiz“ – „Hm… wie beliebt?“
Das Gespräch geht (wie immer bei T.M.) noch ein paar Seiten weiter und cringt an allen Ecken. Am Ende denken alle Beteiligten einfach nur: epic Fail! So epic war‘s am Ende doch nicht: Permaneder wird Tonys Gatte Nummer zwo. Aber Tony kommt nicht darauf klar, dass in München Frikadellen „Fleischpflanzerl“ heißen, dann sagt der angehopfte Ehegatte noch was Unverzeihliches und Tony so: „Tschüss“.
2020: Woyzeck ist so lost, dass er seine Freundin ersticht
Büchners „Woyzeck“ ist anders als von einigen Erstsemestern angenommen kein Stück über die Auswirkungen einseitiger Ernährung, sondern die traurige Geschichte eines Menschen, der so lange desozialisiert wird, bis er völlig lost ist. Täglich gibt es nur Erbsen zu Essen, seine Freundin hat ihn betrogen und obendrein hält ihn sein einziger Freund im Angesicht zweifelhaften Verhaltens auch noch für fieberkrank.
Woyzeck, fest entschlossen seine Freundin umzubringen, lockt sie (eigentlich total sus) an einen Teich:
„Friert's dich, Marie? Und doch bist du warm. Was du heiße Lippen hast! Heiß, heißen Hurenatem! Und doch möcht' ich den Himmel geben, sie noch einmal zu küssen. – Friert's dich? Wenn man kalt is, so friert man nicht mehr. Du wirst vom Morgentau nicht frieren.
„Was sagst du?“ entgegnet die Freundin, sichtlich verwirrt, dem fest entschlossenen Woyzeck. Endlich dämmert auch ihr, dass ihr Partner lost ist. Doch da ist es schon zu spät: Woyzeck ersticht die junge Frau und geht danach zum Tanz ins Wirtshaus – todeslost, wie YouTuber Rezo attestieren würde.
2018: Der gute Mensch von Sezuan war eine Ehrenfrau
Auf der Suche nach einem Beweis dafür, dass auch gute Menschen auf der Erde leben, landen drei Götter in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ auf Umwegen bei der Prostituierten Shen Te. Diese verspricht, nun nur noch Gutes tun zu wollen. Ergebnis? Nunja, im Zeugnis würde stehen: Sie war stets bemüht.
Shen Te: „Besonders die wenig zu essen haben, geben gern ab.“
Weil Gutsein eben nicht immer einfach ist, legt sich Shen Te das böse Alter Ego Shui Ta zu. Während Shen Te eine richtige Ehrenfrau ist, das Gute im Menschen sieht, Obdachlosen ein Dach über dem Kopf bietet und ihrem Partner mit Geld aushilft, ist das Shui Ta ein klassischer Minuskollege: Jemand, auf den man sich eben nicht verlassen kann und der immer auf der Suche nach dem eigenen Vorteil ist.
2017: Goethes Faust – jetzt in Vong-Sprache
Mephisto könnte sich ja auch einfach mit „Halo I bims 1 Mefistofeles“ vorstellen. Er macht’s aber ein bisschen ausladender:
„Halo I bims 1 Gaist wo steds vanaint
Und das vong Rechd her dem ales emtsteht
Isd wert das es zugrumte ged
Vong dem her beser wär das nix entstümde
So isd den ales was ir sünde
Zerstörrung, kurts das Böhse nennd
Main eimgendliches Ellemend.“
Bevor wir nun wütende Leser*innenbriefe für die Verunglimpfung des Faust I. erhalten, verweisen wir auf die „Holyge Bimbel“ von Shahak Shapira. Das sollte den Blutdruck noch viel mehr in die Höhe treiben!
2016: Einmal so fly sein wie Claire Zachanassian
Der Rachefeldzug der Claire Zachanassian, die als geschwängerte Kläri Wäscher aus Güllen vertrieben wurde und als exzentrische Multimilliardärin zurückkehrt und mit einem unmoralischen Angebot ihr Heimatdorf in Aufruhr bringt, ist ein Paradebeispiel für Fly sein, eine besondere Form der guten Performance, bei der eine Person mit ihrem coolen Verhalten für Aufsehen sorgt.
C. Zachanassian: „Zwei Gangster aus Manhattan, in Sing-Sing zum elektrischen Stuhl verurteilt. Auf meine Fürbitte zum Sänftentragen freigelassen. Kostete mich eine Million Dollar pro Fürbitte. Die Sänfte stammt aus dem Louvre und ist ein Geschenk des französischen Präsidenten. Ein freundlicher Herr, sieht genau so aus wie in den Zeitungen. Tragt mich in die Stadt, Roby und Toby.“
Wie fly muss man bitte sein, wenn man sich in einem Dorf namens Güllen auf einer Sänfte herumtragen lässt, die von amerikanischen Gangstern mit den dümmlichen Namen Roby und Toby geschleppt wird? Ganz nebenbei droppt Zachanassian noch, dass die Sänfte (natürlich aus dem Louvre) ein Geschenk ihres Homies, dem französischen Präsidenten, ist. Dürrenmatts Besuch der alten Dame, einfach wyld!
2015: Der leidende Werther ist ein Smombie und hat nur Augen für Klopstock (und dann auch für Lotte)
Der „Smombie“ in der Zeit vorm Smartphone war der „Buchbie“: Der Buch-Zombie. Einer ist besonders fame: Goethes Lieblings-Emo Werther. Werther ist so auf Buch-Droge, dass ein Wort reicht, um ihm die Herzchen in die Augen zu treiben:
„Sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige, und sagte - Klopstock!“
Und BÄM! Werther ist hin und weg, die Situation ist wyld. Denn der Bücherwurm ist Feuer und Flamme für Notorious F.G.K. – Friedrich Gottlieb Klopstock – und jetzt auch für Lotte. Aus der Bae wird die eine Eine.
2012: YOLO! Vom Kennenlernen zum Liebestod in fünf Tagen
Fettes Smash in Verona: Romeo und Julia sind beide noch nicht tinderjährig, aber die Beziehung läuft trotzdem ziemlich wild. Nach dem ersten Date auf dem Ball bei Babo Capulet gibt’s das erste Stelldichein am Balkon.
An Tag 2 wird geheiratet, aber Romeo – Ehrenmann – rächt seinen Bestie Mercutio und macht aus Julias Cousin Schaschlik. Trotzdem darf Romeo nochmal auf einen Kaffee mit hoch bei seiner Flamme. Bei einer Diskussion über Vogelgeräusche – war’s jetzt die Lerche oder die Nachtigall – meint Romeo nur:
„Ich bleibe gern: zum Gehn bin ich verdrossen.
Willkommen, Tod! hat Julia dich beschlossen.“
Mit anderen Worten: „YOLO – You only live once”
2008: Warum die Ballnacht in Schnitzlers „Traumnovelle“ eine waschechte Gammelfleischparty war
Man stelle sich vor: Eine prunkvolle Villa. Darin eine wilde Sexparty, bei der lauter wohlhabende Mittvierziger maskiert und anonym miteinander smashen, zuvor verkleidet als Nonnen und Mönche. Was klingt wie eine gewöhnliche Nacht im Berliner Berghain entstammt jedoch der Feder Arthur Schnitzlers:
„Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten […] das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens. Doch wie ihm erging es wohl auch den andern. […] und plötzlich, als wären sie gejagt, stürzten sie alle, […] zu den Frauen hin.“
In den Augen von Jugendlichen wäre die rauschende Ballnacht aus Schnitzlers „Traumnovelle“ eindeutig eine Gammelfleischparty gewesen: Eine Ansammlung überalterter Leute, die eine Party unter ihresgleichen feiern. Und dann auch noch nackt, was für ein cringe.