Im zweiten Zwischenbericht zum Fall Dillinger gibt es Schilderungen von Betroffenen, die erschüttern. Die damals 14 bis 17-Jährigen haben sich den beiden ehemaligen Staatsanwälten Brauer und Hromada anvertraut, die seit Mai versuchen, den "Fall Dillinger" aufzuarbeiten. Im September hatten sie ihren ersten Zwischenbericht vorgelegt.
Aussagen von Betroffenen wesentlich für Aufarbeitung
Die Betroffenen, die sich bei ihnen gemeldet haben, schildern vor allem Vorfälle aus den 1960er und 1970er Jahren. Dillinger suchte damals gezielt Kontakt zu Jugendlichen bei Klassenfahrten, Messdienerfahrten oder in Jugendgruppen, die er selbst gründete. Auch in vielen afrikanischen Ländern war der Priester unterwegs, suchte Kontakt zu jungen Stipendiaten.
Dillingers Fotos
Die Staatsanwaltschaft Mainz hat mehr als 200 Fotos sichergestellt, die der Neffe des verstorbenen Priesters Dillinger in dessen Haus gefunden hatte. Zehn dieser Fotos sind nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft strafrechtlich relevant, zwölf werden dem Grenzbereich zu Jugendpornografie zugeordnet. Dillinger nutzte demnach regelmäßig bei Jugendfreizeiten die Gelegenheit, Jungen im Alter zwischen 14 und 17 in Badehose zu fotografieren, im Waschraum von Campingplätzen, beim Klettern, bei privaten Feiern, teilweise in seinem Haus.
Betroffener aus Bitburg
Nach Bekanntwerden des Falls Dillinger im April 2023 meldete sich ein Betroffener aus Bitburg. Er hatte Dillinger kennengelernt, als der in Bitburg Kaplan war. Der Betroffene war Messdiener und gehörte zu einer Gruppe Jugendlicher, die später selbst Priester werden wollten. Als Dillinger nach Hermeskeil wechselte, traf sich dieser "Kreis junger Missionare" in Dillingers Haus in Hermeskeil.
Reise mit Jugendlichen nach Tunesien 1969
Drei von ihnen machten mit Dillinger 1969 eine Reise nach Tunesien. Sie fuhren in Dillingers Privatwagen und übernachteten zu viert in einem Zelt. Der Betroffene erinnert sich, dass es sehr heiß war und sie fast immer Badehosen trugen, dass das Zelt für vier Personen ziemlich klein war.
Der Betroffene sagte den ehemaligen Staatsanwälten Brauer und Hromada, dass der Vorfall für ihn ein einschneidendes Ereignis gewesen sei. "Ich erinnere mich genau an eine Nacht, in der ich plötzlich wach wurde", schilderte er. Er habe plötzlich Bartstoppeln in seinem Gesicht gespürt und Dillinger habe versucht, ihn zu küssen und ihn an den Schultern gepackt. Mit aller Kraft wehrte sich der Junge und irgendwann sei Dillinger an seinen Schlafplatz zurückgegangen. Obwohl er sicher war, dass die anderen Jugendlichen in dem kleinen Zelt etwas mitbekommen haben mussten, sagte am nächsten Tag niemand ein Wort darüber.
Strafanzeige gegen Dillinger
Der Junge erzählte zuhause in Bitburg seinem Vater, was passiert war. Der Vater glaubte seinem Sohn und machte eine Strafanzeige gegen den Priester. Vorher war Dillinger in seinem Elternhaus ein und aus gegangen, hatte als Vertrauensperson gegolten, sagt der Betroffene. Konkrete Folgen hatte die Strafanzeige gegen Dillinger offenbar nicht. Dillinger wurde aber in dieser Zeit von Hermeskeil nach Köln versetzt.
Übergriffiges Verhalten Dillingers in Hermeskeil
Nach einer Sendung des SWR im September 2023 meldete sich ein weiterer Betroffener, der schrieb, er sei von Dillinger als Jugendlicher missbraucht worden. Auch er habe zum Kreis junger Missionare gehört und sei von Dillinger in sein Haus nach Hermeskeil eingeladen worden. Vorher habe Dillinger ihn im Freibad Hermeskeil dazu aufgefordert, sich vor ihm umzuziehen.
Der Betroffene schrieb, dass er sich sehr geschämt habe, aber auch Angst vor Dillinger hatte. "Es war mir zwar sehr widerwärtig, aber ich wagte mich ihm gegenüber als Respektperson nicht zu wehren." Dillinger habe ihn abends zu Bett gebracht und ihn ins Gesicht geküsst. Er habe sich auch zu ihm ins Bett gelegt, ihn gestreichelt und gekuschelt. Der Betroffene gab an, Dillinger habe sich auch bei anderen Jungen so verhalten. Er habe damals mit niemandem darüber geredet. Erst später sei ihm bewusst geworden, dass Dillinger übergriffig geworden sei. Als Pfarrer sei Dillinger eine Respektsperson gewesen.
Betroffener schildert schweren sexuellen Missbrauch
In einem Telefongespräch mit den beiden ehemaligen Staatsanwälten sagte ein Betroffener, er sei von Dillinger missbraucht und an andere Priester weitergereicht worden. Er wisse auch vom Missbrauch weiterer Jugendlicher zwischen 14 und 17 Jahren. Der Kontakt zu diesem Betroffenen konnte nach Angaben von Brauer und Hromada nicht wieder aufgenommen werden, seine Angaben habe der Betroffene auch nicht autorisiert. Schon im Frühjahr hatte es den Verdacht gegeben, dass es sich um ein Täternetzwerk gehandelt haben könnte, zu dem Dillinger gehörte. Aufgeklärt werden konnte dieser Verdacht noch nicht.
Bistum Trier handelt erst 2012
Im März 2012 gibt es ein Gespräch mit dem Priester Dillinger im Generalvikariat in Trier. Erst zu diesem Zeitpunkt wird er mit Vorwürfen aus den Jahren 1964 bis 1970 konfrontiert, die dem Bistum seit Jahrzehnten bekannt waren. Erst im Jahr 2012 geht der Generalvikar aber damit zur Staatsanwaltschaft Trier. Außerdem wird dem Priester Dillinger erst 2012 verboten, weiter Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zu haben und Messen zu feiern.
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Jungen immer wieder auf Oberschenkel geklopft
Schon 1964 hatte ein Pfarrer Dillinger beim Generalvikariat des Bistums Trier angezeigt. Auf einer Fahrt nach München habe Dillinger einem Schüler mehrfach auf den nackten Oberschenkel geklopft. Eine Mutter mit zwei Söhnen im Alter von zwölf und 14 Jahren habe es abgelehnt, dass ihre Kinder an Veranstaltungen mit Dillinger teilnehmen, weil der ihrem 12-jährigen Sohn mehrfach auf die Schenkel geklopft habe. Dillinger selbst hatte 1964 in einer Anhörung zugegeben, Jungen auf Schulter und Oberschenkel geklopft zu haben.
Romwallfahrt 1970
Ein Student des Priesterseminars Trier wandte sich im Oktober 1970 an einen Prälaten und gab an, Dillinger habe sich während einer Romwallfahrt im August 1970 einem 15-Jährigen intim genähert. Er habe ihm die Hose heruntergezogen und masturbiert. Der Jugendliche hatte sich nach dem Vorfall dem Studenten anvertraut und gesagt, Dillinger hätte von ihm und weiteren Jugendlichen zweideutige Nacktfotos gemacht.
Dillinger redet von Fehltritt
Der Student sagte, Dillinger habe ihn während der Romwallfahrt zur Seite genommen und ihm gegenüber zugegeben, einen "Fauxpas" begangen zu haben. Er bat ihn, zu schweigen. Der Student nahm auf der Rückreise den Film aus Dillingers Fotoapparat. Er ließ den Film entwickeln, doch es gibt nur ein Foto davon, wo die anderen sind, ist unbekannt. In der Personalakte Dillingers liegt ein Foto des 15-Jährigen, es zeigt ihn, wie er mit einer Badehose bekleidet auf einem Bett liegt.
Zweifelhaftes Verhalten des Bistums Trier
Wie in vielen anderen Fällen hat das Bistum Trier nach den Vorwürfen 1964 bis 1970 in erster Linie den Täter geschützt und sich nicht um die Opfer gekümmert. Im Jahr 2012 gab der Priester Dillinger demnach an, das Generalvikariat hätte ihm nach der Romwallfahrt 1970 geraten, seine Stelle als Lehrer in Hermeskeil zu kündigen und für ein Studium nach Köln zu ziehen, bis das Gerede weg sei. Erst 2012 zeigt das Generalvikariat Dillinger bei der Staatsanwaltschaft Trier an. Die Fälle aus den Jahren 1964 und 1970 waren da schon verjährt, das Verfahren wurde deshalb eingestellt.
Bistum Trier verschweigt Staatsanwaltschaft 2012 wichtigen Hinweis
Was das Bistum Trier der Staatsanwaltschaft Trier verschwieg, und wonach die Staatsanwaltschaft offenbar auch nicht fragte, war der eigentliche Anlass für die Anzeige der Jahrzehnte zurückliegenden Missbrauchsfälle. 2012 gab es Meldungen von Mitarbeitern des Kirchendekanats Merzig.
Dillinger wollte 2012 Pfadfindergruppe gründen
Dillinger und ein Pfarrer wollten damals im saarländischen Beckingen einen Pfadfinderstamm gründen. Ein Pastoralreferent wandte sich daraufhin an den Interventionsbeauftragten des Bistums Trier. Er habe Hinweise bekommen, wonach Dillinger im Pfarrhaus zusammen mit jungen Messdienern übernachte. Eltern hätten ihr Unbehagen geäußert. Das alles verschwiegen die Verantwortlichen im Bistum Trier der Staatsanwaltschaft.
Brauer und Hromada hoffen weiter auf Meldungen von Betroffenen
Die beiden Beauftragten für die Aufarbeitung, Brauer und Hromada, hoffen nach wie vor, dass sich weitere Betroffene bei ihnen melden. Das ist eigentlich ihre einzige Chance, mehr über den Fall Dillinger zu erfahren. Die Vernichtung wichtiger Dokumente wie Dillingers Terminkalender von den 1960er Jahren bis 2021 und weiterer möglicher Beweismittel durch die Staatsanwaltschaft Saarbrücken im Sommer 2023, "stellt einen herben und in seinen Ausmaßen nicht abzuschätzenden Verlust für die Aufarbeitung dar", so Brauer und Hromada. Sollten sich keine neuen Hinweise ergeben, wollen sie ihren Abschlussbericht im ersten Halbjahr 2024 vorlegen.
Aufarbeitungskommission kritisiert aktuelle Bistumsleitung
Die Ergebnisse des Berichts seien erschreckend und belastend, so die Aufarbeitungskommission. Berichte Betroffener machten den Umfang und das Ausmaß des durch Dillinger verübten Missbrauchs deutlich. Er habe kirchliche und Ehrenämter ausgenutzt, um jahrzehntelang und in vielen Ländern Jugendliche zu missbrauchen. Die Untätigkeit des Bistums schmerze und ärgere.
Noch 2012 habe die Bistumsleitung aktuelle Hinweise auf Dillinger verschwiegen und bei der Staatsanwaltschaft nur Jahrzehnte zurückliegende Fälle angezeigt, die juristisch verjährt waren. Auch das Verhalten der staatlichen Behörden im Fall Dillinger gebe Anlass zu kritischen Fragen, so die Beauftragten der Aufarbeitung des Falls.