Die Stimme am Wahltag vor Ort im Wahllokal abgeben oder schon im Vorfeld die Möglichkeit der Briefwahl nutzen? Für viele eine Entscheidung, die aus rein praktischen Erwägungen heraus getroffen wird. Dabei ist die Briefwahl eigentlich als Ausnahme definiert. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Zahl der Briefwähler aber deutlich erhöht.
Die Briefwahl gibt es in Deutschland seit 1957. Sie wurde eingeführt, um die "Allgemeinheit der Wahl" sicherzustellen, einen der fünf elementaren Wahlrechtsgrundsätze der deutschen Demokratie: Die Wahl muss laut Artikel 38 des Grundgesetzes allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim erfolgen.
Allgemeinheit besagt, dass möglichst jede und jeder Wahlberechtigte die Möglichkeit haben soll, an der Wahl teilzunehmen - auch die, die aus verschiedenen Gründen nicht am Wahltag das Wahllokal aufsuchen können - etwa weil sie zu alt, gesundheitlich angeschlagen oder im Urlaub sind.
Seit 2008 keine Nennung von Gründen mehr nötig
Ein halbes Jahrhundert lang konnte die Stimme nur dann per Brief abgeben werden, wenn dies glaubhaft begründet werden konnte. Diese Regelung schaffte der Gesetzgeber 2008 ersatzlos ab. Der Anteil der Briefwähler ist seitdem weiter gestiegen.
Bei der Bundestagswahl 2021 erreichte er mit 47,3 Prozent den bisher höchsten Wert in Deutschland. "Mit Sicherheit ist die Corona-Pandemie da ein Treiber gewesen", sagt die Demokratieforscherin Theres Matthieß von der Uni Göttingen. Aber auch ohne Corona hätte es wahrscheinlich einen Anstieg gegeben. "Aber ich denke nicht, dass dieser ohne Corona genauso groß gewesen wäre", so Matthieß weiter.
In Rheinland-Pfalz war der Anteil der Briefwähler in den vergangenen Jahren besonders hoch - bei der letzten Landtags- und der letzten Bundestagswahl lag er bei mehr als 60 Prozent. Auch bei der Europawahl steigen die Werte seit Jahrzehnten kontinuierlich.
Verfassungs-Problematik
Viele Juristen haben allerdings verfassungsrechtliche Bedenken gegen den großen Anteil der Briefwähler. Die Freiheit der Wahl ebenso wie ihre Geheimheit und ihre Öffentlichkeit stünden in einem Spannungsverhältnis zur Briefwahl, sagte der Verfassungsrechtler Markus Ogorek von der Universität Köln 2021 dem "Deutschlandfunk". Denn am Küchentisch könne keiner kontrollieren, ob wirklich geheim und frei abgestimmt werde.
Der Staatsrechtler Alexander Thiele von der Uni Göttingen sieht auch die Gleichheit der Wahl nicht mehr gegeben. Denn diese verlange auch, dass die Wahlberechtigten zumindest theoretisch über die gleichen Kenntnisse verfügten. "Haben einige Abstimmende aufgrund einer späteren Stimmabgabe 'Sonderwissen', kann das die Legitimität einer Mehrheitsentscheidung insofern ernsthaft gefährden, weil auch früher Abstimmende mit diesem Wissen möglicherweise anders abgestimmt hätten und das Ergebnis der Wahl dann unter Umständen nicht die tatsächliche Mehrheitsmeinung wiederspiegelt."
Sie könne diese Bedenken durchaus nachvollziehen, sagt Matthieß. Bisher seien aber nur Einzelfälle bekannt, wo es tatsächlich zu einem Wahlbetrug bei der Briefwahl gekommen sei. "Und ob das dann so einen großen Einfluss auf den Wahlausgang hat, wage ich zu bezweifeln."
Bundesverfassungsgericht dazu
Diese Risiken haben in den vergangenen Jahrzehnten auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt, das sich mehrfach mit dem Thema Briefwahl befasste und sie trotz der Risiken für verfassungskonform erklärte. In seinen Entscheidungen hat es dabei der "Allgemeinheit der Wahl" einen größeren Stellenwert beigemessen als einer drohenden Gefährdung des Wahlgeheimnisses.
Sonderfall Corona in RLP 2021
Im Vorfeld der rheinland-pfälzischen Landtagswahl 2021 hatten mehrere Kreiswahlleitungen und Bürgermeister dafür plädiert, die Abstimmung wegen der Corona-Pandemie ausschließlich per Briefwahl durchzuführen.
Landeswahlleiter Marcel Hürter wies das aber zurück. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben komme die ausschließliche Briefwahl nur als Ultima Ratio ('letztmöglicher Weg') in Betracht. Eine ausschließliche Briefwahl könne nur angeordnet werden, wenn das öffentliche Leben insgesamt regional weitgehend zum Erliegen gekommen sei.
Bei der Prüfung von entsprechenden Anträgen sei eine Gesamtabwägung zu treffen, erklärte Hürter. Dabei müsse auch die verfassungsrechtliche Bedeutung der Öffentlichkeit der Wahl berücksichtigt werden, die so nur im Wahllokal sichergestellt werden könne.
"Mehr ungültige Stimmen durch Briefwahl"
Ein weiteres Problem sieht Matthieß auf der rein praktischen Ebene. Die Stimmabgabe bei der Briefwahl sei komplizierter und dadurch gebe es mehr ungültige Stimmen.
Schließlich verweist Matthieß darauf, dass die Möglichkeit der Briefwahl eine ganz andere Form von Wahlkampf nötig mache. "Der Wahlkampf verschiebt sich natürlich nach vorne damit." Die Parteien müssten sich früher bemerkbar machen, müssten früher auf der Straße sein.
Vorschläge für Neuerungen
Neben denen, die die Briefwahl wieder ganz abschaffen möchten, gibt es auch solche, die eine Verlegung der Wahl vorschlagen. Um die Bedeutung des Wahltags zu verdeutlichen, sollte dieser nach der Vorstellung von Staatsrechtler Thiele auf einen Mittwoch verlegt werden. Der könne aber allgemeiner gesetzlicher Feiertag werden, verbunden mit offiziellen Feierlichkeiten im Sinne eines "Wahlfeiertags".
Matthieß weist das zurück und verweist auf Erfahrungen in anderen Ländern. "In den USA und in Großbritannien liegen die Wahltermine traditionell unter der Woche - und da ist die Wahlbeteiligung niederiger als in Deutschland - zum Teil über zehn Prozent."