Der Gang vor den Bundesgerichtshof ist die dritte Instanz, die letzte Chance. "Ich habe ein optimistisches Gefühl", sagt Julia Jannaschk. "Ich habe nichts zu verlieren.“ Neben ihr sitzt der zwölfjährige Tyler im Rollstuhl, Schleim in seiner Lunge erschwert ihm das Atmen. Arme und Beine kann er nicht steuern, seine Augen wandern im Wohnzimmer umher. Julia Jannaschk saugt immer wieder den Schleim ab.
Seit einem Unfall in einem Limburger Krankenhaus vor elf Jahren ist Tyler schwer behindert. Als 14 Monate altes Kleinkind verschluckte er sich an einem Apfelstück, während eine Krankenschwester ein Medikament verabreichte. Es dauert zu lange, bis die Lunge wieder frei war und sein Gehirn mit Sauerstoff versorgte.
Landgericht Limburg sprach eine Million Euro Schmerzensgeld zu
Seit acht Jahren streitet seine Mutter nun vor Gerichten um Schadensersatz. Zuerst habe das gut ausgesehen, so Jannaschk. Das Limburger Landgericht sah Fehler im Verhalten der Krankenschwester. Eine Million Euro Schmerzensgeld sowie eine lebenslange Pflegehilfe lautete das Urteil im Juni 2021. Es war das höchste Schmerzensgeld, das ein Gericht in Deutschland bisher verhängt hatte, teilt ihr Anwalt, Boris Meinecke, mit.
Doch die Klinik sowie die beklagte Krankenschwester legten Berufung ein. Im April dieses Jahres kippte das Oberlandesgericht Frankfurt das Urteil aus erster Instanz.
Genehmigungen der Krankenkasse brauchen fünf Jahre
Für die Familie mit insgesamt fünf Kindern zwischen elf und 18 Jahren macht das den Alltag deutlich schwerer. Julia Jannaschk pflegt Tyler zuhause, die Familie erhält Sozialhilfe. Für vieles sei sie sehr dankbar. Wie für die engagierte Neurologin oder das tolle Busunternehmen, das Tyler jeden morgen von Mittelfischbach nach Neuwied in die Schule bringe. Doch geschenkt werde nichts. Fünf Jahre habe es gedauert, bis die Krankenkasse ein Gerät zur nächtlichen Überwachung von Tylers Schlaf genehmigt habe.
"Wir haben gelernt, mit dem Gesicht auf dem Boden zu liegen, uns mit Ämtern, Krankenkassen und dem Sozialgericht auseinanderzusetzen", sagt Jannaschk. Das seien Lernprozesse fürs Leben gewesen.
Würde der Schadensersatz gewährt, könnte sie "einfach machen". Zum Beispiel das Bad behindertengerecht umbauen oder die Türen verbreitern, sodass Tyler einen elektrischen Rollstuhl nutzen könne, sagt Jannaschk.
Chance von fünf Prozent vor dem Bundesgerichtshof
Die Familie legt jetzt vor dem Bundesgerichtshof (BGH) eine Nichtzulassungsbeschwerde ein. Nur in fünf Prozent der Fälle stimme der BGH der Beschwerde zu, sagt Anwalt Boris Meinecke. In diesem Fall müsste das Oberlandesgericht Frankfurt den Fall neu verhandeln. "Ich halte das nicht für ausgeschlossen, aber von der Statistik her ist die Chance nicht groß", sagt Meinecke.
Ohne einen ihrer Söhne, wäre Julia Jannaschk diesen Schritt nicht mehr gegangen. "Er hatte sein Motorrad kaputt gemacht, ein wirtschaftlicher Totalschaden", sagt Jannaschk. Aber die Werkstatt hatte uns von einer zehn Prozent großen Chance erzählt, das Motorrad wieder zum Laufen zu bekommen. "Wir haben für 35 Euro Ersatzteile gekauft und das Ding läuft. Mein Sohn hat mich danach abends am Tisch sitzen sehen und gefragt, ‚Mama, warum gibst du jetzt auf?‘"
Darauf hin hat Julia Jannaschk die Unterlagen für die Beschwerde unterschrieben. Anwalt Boris Meinecke erwartet ein Urteil des BGHs innerhalb der nächsten zwölf Monate.