Über den Bildungsweg von Kindern entscheiden oft die finanziellen Mittel der Eltern. Ein Interview über Bildungsgerechtigkeit mit einer ehemaligen Lehrerin aus Kaiserslautern.

Interview zur Bildungsgerechtigkeit

Lehrerin aus Kaiserslautern: "Eltern müssen auch Hilfe annehmen"

Stand
Autor/in
Viktoria Machleidt
Reporterin Viktoria Machleidt aus dem SWR-Studio in Kaiserslautern.

Studien zeigen: Der Geldbeutel entscheidet oft über den Bildungsweg von Kindern. Wie hart der Kampf um faire Bildungschancen sein kann, zeigt der ARD-Film "Ein Mann seiner Klasse".

Es geht um die schwierige Kindheit von Christian Baron, die geprägt war von Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Zusammen mit seinem alkoholkranken Vater und seiner depressiven Mutter hat er in der Kaiserslauterer Innenstadt gelebt, wo er auch zur Schule gegangen ist. Wir haben mit seiner ehemaligen Lehrerin, Ingrid App, über Bildungsgerechtigkeit in der Praxis gesprochen.

SWR Aktuell: Frau App, Sie haben Christian Baron als Grundschullehrerin unterrichtet. In seinem Buch berichtet er von prekären familiären Verhältnissen. Haben Sie das als Lehrerin damals mitbekommen?

Ingrid App: Der Christian war ja mit seinem Bruder gemeinsam in der gleichen Klasse. Ich habe die beiden in der dritten und vierten Klasse unterrichtet. Man hat ihnen nicht angemerkt, dass es da zu Hause Geldnöte gab. Das haben wir überhaupt ein ganzes Jahr nicht gemerkt. In der Klasse waren noch mehr Kinder aus armen Verhältnissen. Ich glaube, es war niemand da, der in einem großen Haus aufgewachsen ist, mit einem dicken Auto davor und Schwimmbad hintendran.

SWR Aktuell: Wie kann das sein, dass Sie das als Lehrkraft nicht bemerkt haben?

App: Weil die Kinder nicht davon erzählt haben. Wir hatten immer montags einen Morgenkreis und da wurde dann erzählt, was sie am Wochenende so gemacht haben. Sie waren zum Beispiel Burger oder Pommes essen oder mal im Kino. Christian und sein Bruder kamen immer strahlend fröhlich zur Tür rein und haben sich einfach gefreut, wieder ihre Klassenkameraden zu sehen. Nach dem Lesen des Buches war ich schon ziemlich schockiert, wie es da zuhause zuging. Und erst als wir von der Krankheit der Mutter erfahren haben und ein bisschen mehr nachgefragt haben, haben wir auch dafür gesorgt, dass die Kinder dann nachmittags noch eine Betreuung hatten und ein warmes Mittagessen bekamen - und halt einfach noch ein bisschen Spaß am Leben haben konnten.

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SWR Aktuell: Kommen Kinder aus bildungsfernen Haushalten, führt das oft zu ungleichen Chancen in der schulischen Laufbahn. Für wie bildungsgerecht schätzen sie die Grundschulen in Kaiserslautern ein?

App: Die Grundschule, an der ich war, halte ich schon für recht bildungsgerecht. Denn es gibt viele Fördermittel, die Eltern in Anspruch nehmen können. Also ich kann mich erinnern, da gab es auch eine Zeit lang die Möglichkeit, Nachhilfeunterricht zu bekommen. Das hat eine Frau bei uns in der Schule nach dem Unterricht angeboten. Sie hat den Kindern individuell helfen können und ihre Arbeit mit dem Arbeitsamt abgerechnet. Ich habe viele Kinder mit alleinerziehenden Müttern erlebt, die wenig Geld hatten, aber ihren Kindern alles ermöglichen konnten. Ich glaube, wenn sich die Eltern drum kümmern, kann ihr Kind schon überall mitmachen.

SWR Aktuell: Liegt die Verantwortung also aus Ihrer Sicht hauptsächlich bei den Eltern?

App: In erster Linie liegt sie bei den Eltern, glaube ich. Was sie ihren Kindern eben auch vorleben. Ein Beispiel: Es gibt Eltern, die das Kind nicht rechtzeitig in die Schule schicken. Und wer muss darunter leiden? Das Kind. Und dann entstehen natürlich auch Lücken im Lernstoff. Und da fühlen sie sich natürlich auch abgehängt. Manchmal müssen Gespräche auch über das Jugendamt gehen, um eben den Eltern diese Unterstützung noch mal angedeihen zu lassen. Aber es gibt auch Leute, die bleiben in einem so tiefen Loch stecken, dass sie da keine helfende Hand annehmen wollen.

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SWR Aktuell: Denke ich an meine Schulzeit zurück, erinnere ich mich an teils absurde Anforderungen der Lehrer beim Schulmaterial. Einmal musste ich mit meiner Mutter die gesamte Stadt abgeklappern - auf der Suche nach irgendeinem speziellen Papier für den Kunstunterricht und überteuerten Bleistiften. Muss das sein?

App: Ich sehe schon, dass gerade so eine Einschulung und der Schulbeginn sehr teuer sind für die Eltern. Aber es gibt Lernmittelfreiheit. Wie weit sich das auf das Material bezieht, kann ich gar nicht sagen. Ich selbst habe auch Kinder und bin dann auch immer am Schuljahresanfang gerannt, um die richtigen Schnellhefter und so zu besorgen. Aber ich habe es immer so erlebt, dass Lehrkräfte da unterstützen, wenn man danach fragt. Oder es helfen Sozialarbeiter, damit die Kinder eben nicht benachteiligt werden.

SWR Aktuell: Was kann und muss sich am Schulsystem ändern, um Niemanden hängen zu lassen?

App: Das Land müsste mehr Personal einstellen. Ich habe jetzt letzte Woche eine Situation erlebt, da waren von acht Klassenlehrerinnen vier erkrankt. Da kam dann eine ganz junge Lehramtsstudentin, die den Unterricht übernommen hat. Die hat gesagt, es sei ihre erste Unterrichtsstunde gewesen. Ist ja toll, dass sie sich bereit erklärt hatte, aber sie wurde gleich ins kalte Wasser geschmissen. Manchmal hat man den Eindruck: Hauptsache, da ist eine Person, die aufpassen kann, damit die Haftung klargestellt ist. Es braucht mehr Personal und Förderstunden.

Auch Integration kann in vielen Fällen sehr gut laufen. Aber es gibt auch viele Fälle, da stößt man an die Grenzen, da geht es zu Lasten der Klasse.

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SWR Aktuell: Welche Folgen hat das für die Schülerinnen und Schüler – vor allem für die, die mehr Unterstützung brauchen?

App: Die Schülerinnen und Schüler kommen irgendwann nicht mehr mit dem Stoff hinterher, so dass die Anforderungen an die Kinder immer weiter abgestuft werden. Es muss einfach mehr Geld in die Hand genommen werden, damit die Kinder, die es brauchen, auch besonders beschult werden können. Zum Beispiel kann man Kinder ohne Deutschkenntnisse nicht einfach in eine vierte Klasse setzen. Dafür müsste es erst andere Kurse geben.

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