SWR Aktuell: Herr Rosenberg, wie haben Sie den 7. Oktober, den Tag des Angriffs, erlebt?
David Rosenberg: Ich stand mit einer Delegation der Bundeszentrale für politische Bildung am Flughafen, wir wollten eigentlich nach Israel fliegen. Die deutschen Mitglieder waren lange Zeit optimistisch, die Reise noch antreten zu können, mir war aber schnell klar: Das wird nichts mehr. Meine Familie in Israel kommt aus Aschkelon*, Raketenanschläge ist man dort gewöhnt und einen Bunkerraum gibt es in jedem Gebäude. Aber dass palästinensische Militante ins Land selbst eindringen, dass sie israelisches Territorium kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen - das gab es noch nie.
* Anmerkung der Redaktion: Aschkelon liegt keine 10 KIlometer nördlich des Gazastreifens. Am 7. Oktober gab es hier bereits Explosionen, am 10. Oktober stand die Küstenstadt unter Raketenbeschuss.
SWR Aktuell: Was haben die Nachrichten über den Angriff unmittelbar danach bei in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden ausgelöst?
Rosenberg: Ob man als jüdischer Deutscher Familie in Israel hat, oder nicht: Wir betrachten dieses Land als unsere Oase. Es gibt das Bild vom Juden, der immer auf gepackten Koffern sitzt und aus ihnen lebt. Und teilweise verlassen wir uns auch darauf, dass wir sagen können: Wenn es nötig ist, können wir immer noch nach Israel gehen. Dass jetzt dieser sichere Hafen so angegriffen worden ist, tut unfassbar weh.
SWR Aktuell: In Mainz wurde in der Nacht zu Donnerstag (dem 12. Oktober) vor dem Mainzer Stadthaus die dort gehisste israelische Fahne von Unbekannten angezündet. Schüren solche Vorfälle Ängste auch vor massiven Übergriffen in Deutschland, gerade nach dem Aufruf der Hamas zu Gewalt gegen Juden und jüdische Einrichtungen am 13. Oktober?
Rosenberg: Tatsächlich tun sie das. Die Gemeinde in Trier hat zum Beispiel für den angekündigten "Tag des Zorns" ihren Gottesdienst abgesagt, andere Gemeinden haben höheren Polizeischutz, als sie ohnehin schon in Anspruch nehmen müssen. Man muss sich überlegen, dass nur einer reicht: Wir leben in einem Land mit über 83 Millionen Menschen, es reicht ein einziger, der austickt. Dann gibt es Trittbrettfahrer, auch das hat man schon erlebt. Terroranschläge in Europa gab es in der Vergangenheit zur Genüge.
SWR Aktuell: Wie gehen die Gemeinden aktuell mit dieser großen Sorge um?
Rosenberg: Auch wenn wir Angst haben: Wir stehen zusammen. Die Gemeinden bieten psychologische Unterstützung per Hotline an, die machen einen tollen Job. Und sind auch mit den Nerven fertig, weil sie die ganze Zeit mit den Leuten sprechen müssen, das nimmt sie natürlich sehr mit. Aber wir müssen weiterhin stark bleiben - in Deutschland und in Israel. Ein Freund von mir, der Mitglied der Armee ist, ist sogar nach Israel geflogen und hat sich bei seiner alten Base gemeldet.
SWR Aktuell: Wie schätzen Sie den Rückhalt aus der deutschen Gesellschaft und der nicht-jüdischen Bevölkerung des Landes ein?
Rosenberg: Natürlich gibt es auch in Deutschland Strömungen, die uns nicht wohlgesonnen sind. Da reicht es, sich auf Instagram die Kommentare anzugucken unter einem Tagesschau-Beitrag, der das mit der israelischen Flagge angestrahlte Brandenburger Tor zeigt. Die sind teilweise leider ekelerregend und unmenschlich, auch wenn es großen Zuspruch gibt, weil vielen bewusst ist, wie viele deutsche Jüdinnen und Juden unter der Situation leiden. Und man sieht ja, wie viele Kundgebungen organisiert worden sind in ganz Deutschland. Wir sind dankbar, dass wir so eine großartige Unterstützung und Solidarität erfahren. Und ich kann natürlich nicht für die gesamte jüdische Gemeinschaft in Deutschland sprechen kann, aber mein Standpunkt ist da ganz klar: Wir gehen nirgendwo hin. Wir werden Deutschland nicht verlassen, genauso wenig, wie wir Israel verlassen werden.
SWR Aktuell: Was sagen sie aber zu Bildern wie jenen aus Berlin, wo auf der Neuköllner Sonnenallee der Angriff bejubelt und Süßigkeiten verteilt wurden?
Rosenberg: Solche Szenen sind beschämend für Deutschland. Es ist regelrecht gefährlich, sich in solchen Gegenden als Jude zu erkennen zu geben. Man sieht ja, dass diese Leute nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Wie sonst kann man feiern, dass Kinder entführt und Säuglinge enthauptet werden? Und was hat das mit palästinensischem Freiheitskampf zu tun?
SWR Aktuell: Viele jüdische Organisationen warnen seit Jahren nicht nur vor rechtem, sondern auch vor islamischem Antisemitismus. Wurde das nicht ernst genug genommen?
Rosenberg: Es ist in der deutschen Politik mitunter schwierig, verständlich zu machen, dass es nicht darum geht, sich mit dem rechten Spektrum gemein zu machen - und auch nicht darum, dass Juden etwas gegen Muslime hätten. Wir haben etwas gegen Islamisten und es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem politischen Islam und der Religion. Ich kenne keine Organisation, die die Werte des Islams mehr mit Füßen tritt als die Hamas.
SWR Aktuell: Was erwarten Sie von der deutschen Politik in dieser Hinsicht? Es gibt eine Petition an den Bundeskanzler, initiiert von der Jüdischen Studierendenunion Deutschland und dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, in der zahlreiche Forderungen gestellt werden. Zum Beispiel, die Wiederaufnahme der deutschen und europäischen Entwicklungshilfen für die palästinensischen Gebiete an Bedingungen zu knüpfen.
Rosenberg: In Deutschland selbst muss entschlossen gegen Antisemitismus vorgegangen werden. Bildungsarbeit ist essentiell. Und was die humanitäre Hilfe betrifft: Es kann durchaus sein, dass Gelder aus dem Westen über irgendwelche Kanäle auch an die Hamas geflossen sind. Ich finde natürlich, dass man menschliche Entwicklungsarbeit leisten muss, aber nicht nach dem Motto: "Wir geben euch jetzt Hundert Millionen Euro, macht damit, was ihr wollt." Die Einschätzung und Verteilung sollten die Deutschen oder eben Europäer selbst vornehmen - vor Ort. Auch wir wollen, dass es den palästinensischen Zivilisten gut geht, etwas anderes zu behaupten, ist perfide Täter-Opfer-Umkehr.
SWR Aktuell: Die Debatte rund um Geflüchtete ist schon massiv aufgeladen, nicht zuletzt aufgrund der Wahlergebnisse in Hessen und Bayern, wo die AfD großen Zuspruch erfuhr. Welchen Einfluss könnten die jüngsten Ereignisse ihrer Einschätzung zufolge noch haben?
Rosenberg: Antisemitismus gibt es auf jedem politischen Spektrum, von Arm bis Reich, unabhängig vom Bildungsniveau oder der Herkunft. Das ist ein gesellschaftliches Gesamtproblem. Aber es kommen viele Geflüchtete aus Staaten mit heftigstem anti-israelischen und anti-jüdischen Narrativen, es ist mit großem Aufwand verbunden, aber absolut notwendig, denen klarzumachen: Es gibt hier jüdisches Leben, das gehört zu Deutschland dazu und da gibt es auch nichts dran zu rütteln. Gleichzeitig muss auf die Menschen eingegangen werden, die mit der Migrationspolitik unzufrieden sind. Denn wenn wir das nicht tun, wird das rechte Spektrum nur noch stärker und stärker. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät, dass wir das bremsen können. So oder so gilt: Wir sind Teil dieses Landes, und wir wollen es auch mitgestalten. Das ist unser demokratisches Recht. Erst 2021 haben wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert - wir wollen, dass darauf noch viele weitere folgen.
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