Die Mittelschicht, zu der zwei Drittel aller Haushalte gehören, gilt als enorm wichtig für die deutsche Gesellschaft. Viele dieser sogenannten Normalverdiener sorgen sich, weil ihnen zumindest gefühlt das Geld immer knapper wird. Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung warnt in einer Studie: Menschen mit mittleren Einkommen seien am Rande ihrer Belastungsfähigkeit angekommen, vor allem wegen hoher Steuern und sonstiger Abgaben. Hinzu kommen die Inflation und Preissteigerungen in vielen Bereichen. Judith Niehues, Leiterin des Bereichs Mikrodaten und Verteilung beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, erklärt im Interview mit SWR-Aktuell-Moderator Jonathan Hadem, warum sie die Lage der Mittelschicht zwar als angespannt, aber nicht als bedrohlich einschätzt.
SWR Aktuell: Schröpft der Staat die Mittelschicht zu stark?
Judith Niehues: Die Mittelschicht umfasst eine sehr große Gruppe der Bevölkerung. Deswegen lässt sich nicht so ein pauschales Urteil für alle Bereiche treffen. Genau im Bereich der mittleren Einkommen, besser gesagt, der unteren mittleren Einkommen, wird die Gruppe auch vom Nettotransferempfänger zum Nettozahler. Das heißt, im Durchschnitt der Mittelschicht werden mehr Abgaben gezahlt als Transfers vom Staat empfangen werden. Dann steigt die Belastung mit zunehmendem Einkommen, und insbesondere steigt die Belastung bei jedem hinzuverdienten Euro. Die ist in der Mittelschicht besonders groß. Da spricht man dann auch von dem „Mittelschichts-Bauch“. Da zeigt sich dann wirklich eine sehr hohe steuerliche Belastung.
SWR Aktuell: Was bedeutet es denn für die deutsche Gesellschaft, wenn eine solch große Gruppe wie die Mittelschicht die finanziellen Belastungen einfach nicht mehr stemmen kann?
Niehues: Auch hier muss man sicherlich ein bisschen differenzieren. Natürlich ist es so, dass zum einen die Corona Pandemie, aber dann auch die Energiepreiskrise, Deutschland ärmer gemacht hat. Es ist ein größerer Teil des erwirtschaften Einkommens ins Ausland geflossen. Und dadurch sind natürlich wegen der starken Preiserhöhungen die Belastungen für die Mittelschicht gestiegen. Aber die Mittelschicht hat auch profitiert von den Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung, also beispielsweise durch die Energie-Pauschale, überdurchschnittlich durch die Kindergelderhöhung, durch die Strom- und Gaspreisbremse. Und wir konnten zum Beispiel im Beispielrechnungen sehen, dass durchaus die Belastungen auch im Wesentlichen aufgefangen werden konnten, wenn ein Erwerbstätiger mit mittleren Einkommen auch die abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie bekommen hat. Das heißt: Eine ganz pauschale Antwort lässt sich auch hier nicht geben.
SWR Aktuell: Lassen Sie uns auf eine Zahl in der ifo-Studie schauen. Die zur Mittelschicht gehörende Haushalte sind weniger geworden, von 2007 bis 2019, zurückgegangen von 65 auf 62 Prozent. Im gleichen Zeitraum ist die Wirtschaft -abgesehen von der Finanzkrise 2008- kräftig gewachsen. Welche Erklärung gibt es dafür?
Niehues: Das stimmt. Trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung ist der Anteil der Mittelschicht nicht gestiegen. Auch die Ungleichheit ist nicht zurückgegangen. Das heißt aber auch nicht, dass die Mittelschicht jetzt gar nicht von der wirtschaftlichen Entwicklung profitiert hat, sondern genau in der Zeit ist auch das Einkommen, ab wann man zur Mittelschicht zählt, deutlich gestiegen. Das sieht man auch daran, dass in der Zeit die Realeinkommen der Mittelschicht gestiegen sind - und gleichzeitig auch in der Mittelschicht sich immer weniger Menschen große Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation gemacht haben. Das heißt also: Zumindest bis zur Corona-Pandemie hat sich das subjektive Empfinden in der Mittelschicht durchaus positiv entwickelt.
Mittelschicht bleibt stark und behält tragende Rolle
SWR Aktuell: Es wird ja immer von der Rolle der Mittelschicht als „Stütze der Gesellschaft“ gesprochen. Wird die Mittelschicht diesen Status denn auf lange Sicht verlieren?
Niehues: Soweit Daten vorliegen, schon für die Zeit der Corona-Pandemie oder auch die ersten Daten für das Jahr 2022, zeigen zumindest die Verteilungskennziffern, dass das Schichtgefüge nicht völlig aus den Fugen geraten ist. Da sehen wir zumindest, dass die Mittelschicht seit etwa 2005 eigentlich ähnlich groß ist und immer noch bei weitem die größte Gruppe der Bevölkerung darstellt. Das heißt: Allein schon aufgrund der Größe wird die Mittelschicht weiter eine tragende Rolle für die Gesellschaft spielen.
SWR Aktuell: Wie könnte denn die Politik ihrer Meinung nach gegensteuern?
Niehues: Sicherlich sollte die Politik trotz aller Herausforderungen um die Finanzierungslage versuchen, die Belastung der Mittelschicht, die steuerliche Belastung, zumindest schrittweise zu reduzieren, also diesen „Mittelstandsbauch“ zu verkleinern. Ein erster und wichtiger Schritt war beispielsweise auch im Rahmen der Entlastungsmaßnahmen der Abbau der kalten Progression, sodass zumindest die Mittelschicht nicht allein durch die Inflation steuerlich stärker belastet wurde.