Die UN-Behindertenrechtskonvention gilt in Deutschland seit 2009, insgesamt 185 Staaten haben sie unterzeichnet – und darin steht, dass Menschen mit einer Behinderung die gleichen Chancen haben müssen wie Menschen ohne Behinderung, und dass sie nicht diskriminiert werden dürfen. Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern haben mit den Regierungschefs der Länder die sogenannte Leipziger Erklärung verabschiedet. Jürgen Dusel ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von behinderten Menschen. Wie er die Probleme empfindet und welche Lösungen er vorschlägt, erklärt Dusel im Gespräch mit SWR-Aktuell-Moderatorin Constance Schirra.
SWR Aktuell: Sie selbst haben eine Sehbehinderung. Wann sind Sie zuletzt diskriminiert worden?
Dusel: Das ist immer mal wieder der Fall. Wenn man beispielsweise fragt, ob ein Bus in eine bestimmte Richtung fährt und der oder die Fahrerin dann sagt: "Können Sie nicht lesen, das steht doch da vorn". Also: Es kommt immer wieder vor. Ich kann damit relativ gut umgehen. Aber das hat auch damit zu tun, dass sich gewohnt bin, dass sowas passiert. Und das ist eben das Schlimme, dass man das gewohnt ist. Und deswegen ist Inklusion eben nicht nur eine Frage von Gesetz und Verordnungen, sondern es ist letztlich eine Haltungsfrage, hat auch was mit Herzensbildung zu tun. Über all dies haben wir unter anderem mit den Regierungschefs der Länder gesprochen.
SWR Aktuell: Was würden Sie denn sagen? Auf welchem Stand sind wir in Deutschland? Wie gut oder schlecht funktioniert Inklusion bei uns?
Dusel: Das fängt schon mal damit an, dass einem klar wird, dass es in Deutschland ungefähr 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen gibt, mit Behinderungen gibt. Wir zählen oftmals nur die schwerbehinderten Menschen. Das sind dann ungefähr 8 Millionen, und nur drei Prozent von ihnen werden mit ihrer Behinderung geboren. Der Rest erwirbt die Behinderungen im Laufe des Lebens durch Krankheit oder Unfall, durch irgendetwas, und zwar nach der Schule. Das heißt, wenn wir Inklusion immer nur im Bereich der Schule diskutieren, da springen wir wirklich zu kurz, weil die meisten Menschen eben gar keine Behinderung hatten, als sie zur Schule gegangen sind. Für die werden dann andere Dinge wichtig. Und da sind wir in Deutschland im internationalen Bereich nicht besonders gut aufgestellt. Das sage nicht nur ich, sondern das sagt auch der Fachausschuss der Vereinten Nationen. Gerade wenn es um die Barrierefreiheit geht, gerade im privaten Bereich, in Restaurants und auch in Arztpraxen, da wird es ja noch deutlicher: Nach Selbstauskunft der Kassenärztlichen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sind nur ein Viertel der Arztpraxen für Menschen mit Behinderungen zugänglich. Dann wird ziemlich deutlich, dass wir da ein echtes Qualitätsproblem haben.
SWR Aktuell: Das kann man wahrscheinlich auf viele Bereiche ausdehnen: Friseure, Apotheken, Kino....
Dusel: Sie können ja sich überlegen, oder die Hörerinnen und Hörer, dass Sie ab jetzt auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Und wenn Sie sich die Fragen beantworten: Kommen Sie überhaupt noch in ihrer Wohnung rein oder auch nicht? Kommen Sie noch in die Wohnung ihrer Freundinnen und Freunde, weil sie vielleicht eine die Inneres abends unternehmen wollen, rein oder nicht? Wie sieht es aus, wenn sie beispielsweise zu ihrer Ärztin zu ihrem Arzt wollen, wenn sie ins Kino wollen, ins Theater wollen, in die Kneipe wollen, wenn sie ins Hotel wollen? Und dann merkt man doch relativ schnell - und ich rede jetzt noch nicht mal von der Deutschen Bahn -, dass da noch eine Menge zu tun ist. Und es geht eben, das ist mir sehr wichtig, dabei nicht um einen Akt der Nächstenliebe oder um etwas Freundliches. Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Und sie haben genau die gleichen Rechte auf Zugang wie alle anderen Menschen auch. Und ich finde, es ist gut, wenn Politiker so etwas immer mal wieder in Sonntagsreden sagen. Aber es ist viel besser, wenn sie dafür arbeiten, dass die Rechte bei den Menschen ankommen. Also, dass die Menschen mit Behinderungen sich darauf verlassen können, dass der Staat Maßnahmen ergreift, dass man seine Rechte nicht nur irgendwo im Gesetz nachlesen kann, sondern dass man es leben kann. Und da haben tatsächlich heute die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten echt einen Schritt gemacht. Und da freue ich mich auch.
SWR Aktuell: Nun gilt diese Konvention in Deutschland seit 2009. Warum ist die Situation dann immer noch so unbefriedigend? Liegt das am Geld? Oder was ist der Grund?
Dusel: Nein. Es hat unter anderem damit zu tun, dass politische Entscheidungen anders getroffen werden. Und wir sehen es ja beispielsweise bei der Bildung relativ deutlich, dass es Bundesländer gibt wie beispielsweise Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein oder Berlin, die da schon relativ weit sind - und andere Bundesländer wie Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland eben nicht. Das kann man eigentlich keinem erklären, dass es vom Wohnort abhängt in Deutschland, ob ich Zugang habe zum allgemeinen Bildungssystem oder eben nicht. Ich glaube, das ist eine politische Entscheidung. Und ich glaube, es hat auch ein bisschen damit zu tun, dass wir immer noch in so einer Tradition in Deutschland leben, wo wir eher exklusiv unterwegs sind, also Schubladen haben und die Leute in Schubladen einsortieren und meinen, dass wir damit erfolgreich sind. Das sind wir eben nicht, auch im internationalen Vergleich. Und mir ist wichtig, dass uns klar wird, dass Inklusion, also die Teilhabe von Menschen in ihrer Vielfalt, dass Inklusion und Demokratie im Grunde zwei Seiten derselben Medaille sind. Man kann es auch anders sagen. Die Leute, auch die politischen Kräfte, die Probleme mit der Demokratie haben, haben dann meistens auch ein Problem mit der Inklusion.
SWR Aktuell: Was fordern Sie jetzt in der Leipziger Erklärung?
Dusel: Wir haben uns jetzt mehrere Themenfelder mal ganz konkret vorgenommen. Und da spielt natürlich die Bildung eine wichtige Rolle. Ich habe zwar gesagt, dass eben nur drei Prozent der Menschen mit Behinderungen die Behinderung von Geburt an haben. Aber das gemeinsame Lernen, das gemeinsame Großwerden, das strahlt weit in die Gesellschaft hinein. Meine nicht behinderten Mitschüler beispielsweise, die mit mir Abitur gemacht haben, die haben jemanden kennengelernt, mit dem konnte man echt nicht gut Fußball spielen. Ich bin jemand, der eine starke Sehbehinderung hat. Mittlerweile bin ich blind. Ich war auf der Regelschule. Aber ich habe mein Abi geschafft. Und ich weiß, dass die Leute, die dann später Personalverantwortung übernommen haben, weil die den Betrieb der Eltern übernommen haben oder weil sie eben im Unternehmen Personalverantwortung bekommen haben, auch Menschen mit Schwerbehinderung einstellen. Es geht um den Abbau von Vorurteilen, gerade im Bildungsbereich. Aber wir haben uns auch das Thema Gesundheit angeguckt. Ich habe ihnen gesagt: Nur ein Viertel der Arztpraxen in Deutschland sind barrierefrei. Das kann nicht sein, weil auch Menschen mit Behinderungen in die GKV, die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen. Noch dramatischer wird es, wenn ich mir die gynäkologische Versorgung von Frauen im Rollstuhl anschaue. Das ist wirklich eine Katastrophe aus meiner Sicht. Wir haben uns das Thema Wohnen angeschaut: Finden Sie mal eine bezahlbare Wohnung. Und vor allem finden Sie mal eine bezahlbare und barrierefreie Wohnung. Das heißt, viele Menschen mit Behinderungen müssen in Einrichtungen leben, in Heimen leben, würden da gerne ausziehen, finden aber keine bezahlbare, barrierefreie Wohnung. Wir haben uns über das Thema Arbeit unterhalten: Wie haben Menschen mit Behinderungen Zugang zum Arbeitsmarkt, wir haben uns über Fachkräfte unterhalten, weil Menschen mit Behinderungen sehr gut qualifiziert sind und trotzdem keinen Job finden. Wir haben das gesamte Spektrum aufgemacht, und die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen haben uns eben zugesagt, dass jetzt die Behindertenbeauftragten auch bei den Fachministerkonferenzen fürs Bauen beispielsweise oder für Bildung oder für Gesundheit eben regelmäßig dabei sein werden.
SWR Aktuell: Wie empfinden Sie das, dass sie immer noch solche Forderungen stellen müssen?
Dusel: Ja, das ist mühsam, natürlich, weil man manchmal das Gefühl hat, die Leute müssten das doch verstehen. Man kann sich doch mal selbst vorstellen, dass es einen selbst betrifft. Und das kann jeden von uns betreffen. Wenn 97 Prozent der Menschen die Behinderungen im Leben bekommen, durch eine chronische Erkrankung oder durch einen Unfall kann es wirklich jeden von uns treffen. Und dann sieht die Welt wirklich anders aus. Und vor diesem Hintergrund ist es dann wirklich manchmal mühsam. Aber man braucht einen langen Atem, wenn es um Veränderungsprozesse geht. Und wir haben diesen langen Atem. Aber ich würde mir natürlich wünschen, dass es schneller geht.