Schulsystem

Schule selektiert mehr als sie fördert

Stand
Autor/in
Elena Weidt
Bild von Elena Weidt, Multimedia-Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell

Zu viele Kinder bekommen nicht die Förderung, die sie brauchen. Bildungsforscherin Karin Bräu fordert, dass Schule sich grundlegend verändern muss.

Vorlesen, ein Musikinstrument lernen, Theaterbesuche, Tennis spielen und eine bildungsaffines Zuhause - all das bezeichnet die Bildungsexpertin Karin Bräu als förderlich für den Bildungserfolg.

Bräu ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Mainz und forscht zu Ungleichheiten im Bildungssystem: "Wenn man sich das genauer anschaut, wird eigentlich deutlich, dass Schule Erwartungen an Vorwissen und Sprache, aber auch an Elternbeteiligung hat, die sich an einer bürgerlichen Mittelschicht ausrichtet. Und das ist sozusagen eines der Grundprobleme. Es ist nicht die Familie, die defizitär ist, sondern die Passung zur Schule, die zum Problem wird." 

Frau mit Brille vor schwarzem Hintergrund blickt in die Kamera
Prof. Dr. Karin Bräu ist Bildungsforscherin an der Universität Mainz.

Jedes Kind muss gefördert werden

Deshalb ist Bräu überzeugt, Schule muss sich vielmehr nach den Kindern richten, deren Familien es sich nicht leisten können, ihre Kinder ins Ballett oder zum Klavierunterricht zu bringen. Die "ideale" Schule aus ihrer Sicht muss sich vielmehr fragen, was diese Kinder brauchen, was andere schon aus der Familie mitbringen. 

Dieses selektive Denken, wenn irgendetwas nicht mitgebracht wird, dann ist es hier an der Schule fehl am Platz, das muss ersetzt werden durch eine ganz grundlegende Perspektive: wir fördern jedes Kind.

Und mit jedem Kind meint Bräu auch die leistungsstarken. Denn auch die bräuchten eine andere Aufmerksamkeit. Für Bräu ist es zudem ein Problem, dass einige Lehrer und Lehrerinnen wenig wüssten über die Lebensrealität mancher Kinder:  

Das kommt ja noch dazu, dass die LehrerInnen auch oft aus der Mittelschicht kommen. Es ist ein Personal, das kaum weiß, unter welchen Bedingungen die Kinder aufwachsen. 

Kinder werden nicht immer entsprechend ihrer Leistung gefördert

Dabei sind es Themen wie Klassismus und Alltagsrassismus im Klassenzimmer, für die mehr sensibilisiert werden muss. Aber auch dafür, dass Kinder mit Migrationshintergrund oder aus Arbeiterfamilien nicht immer entsprechend ihrer tatsächlichen Leistung gefördert werden, dass es hier Vorurteile gibt mit fatalen Folgen: "Das weiß man auch aus der Forschung: Angemessene hohe Leistungserwartungen führen auch zu höheren Leistungen. Und umgekehrt geringe Leistungserwartungen führen auch zu Demotivation und einer Abwertung."

Kinder müssten länger gemeinsam lernen

Bräu zitiert in diesem Kontext gerne aus einer Studie einen Studenten, der erzählte, wie er im Grundschulalter von der Lehrerin gelobt wurde mit dem Satz, er als Türke hätte das beste Diktat geschrieben, die Klasse sollte sich ein Beispiel nehmen. Genau so ein Denken muss aufhören, sagt Bräu. Dieses Denken, er hat es "trotzdem" geschafft. Das sei nicht förderlich. Wenig förderlich sei auch die frühe Trennung der Kinder nach der Grundschule, das verstärke die Bildungsungleichheit nur noch.  

Schon nach vier Schuljahren teilen wir auf, wer wohin gehört und wer welchen Bildungsweg gehen wird. Und auch wenn das System durchlässig und nicht endgültig ist, stecken darin viele Benachteiligungsmöglichkeiten.

Denn die Forschung zeigt: Nicht alle Kinder werden auf die richtigen Schulen geschickt: Kinder aus Arbeiterfamilien müssen häufig mehr leisten, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen als Kinder aus eher akademischen Haushalten. Die frühe Trennung sorgt dafür, dass der Lernwille schwindet und soziale Kontakte abgebrochen werden. Kinder länger gemeinsam lernen zu lassen, das sorgt für mehr Fairness und hält Bräu für notwendig: "Ich würde diese Selektionshürde streichen, ich finde ein Gesamtschulsystem bis zur 10. Klasse angemessener."

Unterricht kann zu wenig auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen

Länder wie Finnland, Portugal, Frankreich und auch Estland setzen auf eine neunjährige gemeinsame Schulzeit. Estland ist Pisa-Spitzenreiter und führt das unter anderem auf die längere gemeinsame Lernzeit zurück, aber auch darauf, dass es dort bessere Strukturen gibt, Schüler und Schülerinnen aufzufangen, die hinterherhinken.

Bräu sieht auch hier Nachholbedarf in Deutschland: Der Unterricht sei immer noch zu sehr auf einen mittelstarken Schüler ausgerichtet mit Über- und Unterforderung vieler anderer, auf die zu wenig eingegangen wird. Klar ist aber auch: Der Lehrermangel lässt an vielen Schulen kaum Spielraum für die notwendige Veränderung. 

 

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