Viele Hände gehen in einem Klassenzimmer beim Unterricht an einer Grundschule in die Höhe. In der Ferne sieht man unscharf die Lehrerin.

Bildungsexpertin kritisiert frühe Selektion

Wie Schulen mit den großen Leistungsunterschieden kämpfen

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Sophie Rebmann
Sophie Rebmann im Portrait
Elena Weidt
Bild von Elena Weidt, Multimedia-Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell

Die Startvoraussetzungen der Schulkinder sind verschieden, viel Einfluss nimmt das Elternhaus. Wie lassen sich diese Unterschiede angleichen?

Die erste Klasse an der Wilhelmsschule in Stuttgart-Wangen lernt Lesen: Immer zwei Schulkinder beugen sich zusammen über einen Text. Immer ein Kind, das sich mit dem Lesen schwer tut, und ein Lesetrainer bilden Lesetandem. So lernen die einen von den anderen.

Die Leistungsunterschiede in der Klasse sind groß. "Ich habe sehr viele leistungsstarke Kinder, aber auch sehr viele schwache Kinder in meiner Klasse. Die Schere geht also ziemlich weit auseinander", sagt die Lehrkraft, Sylvia Dühnen. "Ich habe den Vorteil, dass ich eine sehr liebe Klasse habe, die auch sehr sozial ist. Und dass die Kinder sich untereinander auch sehr stark unterstützen und auch helfen."

Schüler einer Grundschule arbeiten in einem Klassenzimmer in ihren Heften.
Schule als Chance für alle? Der Bildungserfolg hängt noch immer stark vom familiären Hintergrund ab.

Bildungserfolg hängt vom Elternhaus ab

Dennoch: Die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten zusammenzubringen, ist ein Spagat. Zwar kann Dühnen den schwächeren Kindern zusätzlich Förderstunden anbieten und erhält regelmäßig Unterstützung von einer FSJ-lerin und anderen Lehrkräften. Aber auch damit können sie die Unterschiede nicht ausbügeln, weil die Startvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler so unterschiedlich sind. Es gibt Kinder, die zu Hause Unterstützung bekommen, einen ruhigen Arbeitsplatz und ein Regal voller Bücher haben. Andere lernen erst in der Schule, mit einem Stift oder einer Schere umzugehen, oder sprechen zu Schulbeginn kaum Deutsch. Diese unterschiedlichen Kenntnisstände in einem Klassenzimmer zu vereinen, sei schwierig. "Ich habe immer das Gefühl, ich kann da niemanden so wirklich gerecht werden", sagt Dühnen.

Für mich beginnt Bildung im Grunde mit der Befruchtung.

"Man kann sehr viel tun für seine Kinder, um sie gesund aufwachsen zu lassen, um die Synapsen im Gehirn quasi schon frühzeitig zu verknüpfen, damit Lernen stattfinden kann", sagt Schulleiter Andreas Passauer, Schulleiter in Wangen im Allgäu (Kreis Ravensburg). "Das findet man bei vielen Kindern nicht so vor. Also die Voraussetzungen vieler Kinder sind an unserer Schule schon so schwach, dass wir große Mühe haben, alle auf einen Stand zu bringen, der uns zufrieden stellt."

Kleinere Klassen, stärkere Kindergärten

Daher will der Schulleiter auch die Kindergärten stärken, weil sie von vielen Eltern nicht als Lernort wahrgenommen würden. Er will zudem Ganztagsklassen aufbauen, in denen mehr Zeit ist, um Stoff zu vermitteln, und das Elternhaus entlastet wird. Das Schulgebäude dafür ist schon im Bau. Die Lehrerin wünscht sich kleinere Klassen und größere Räume. Auch weitere Lernorte seien wichtig, damit die Kinder, die für Einzelbetreuung aus der Klasse genommen werden, nicht auf dem Gang arbeiten müssen, sondern in Ruhe lernen können.

Situation im Klassenzimmer einer Grundschule, Lehrer an der Tafel, ein Kind hebt den Finger
Schule müsse sich mehr an Kinder richten, deren Elternhaus in Sachen Bildung wenig Unterstützung biete, sagt die Bildungsforscherin Karin Bräu von der Uni Mainz.

Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sehen weitere Probleme und Lösungsansätze. Karin Bräu, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Mainz, forscht zu Ungleichheiten im Bildungssystem. Sie kritisiert, "dass Schule Erwartungen an Vorwissen und Sprache, aber auch an Elternbeteiligung hat, die sich an einer bürgerlichen Mittelschicht ausrichtet. Und das ist sozusagen eines der Grundprobleme. Es ist nicht die Familie, die defizitär ist, sondern die Passung zur Schule."

Ich finde ein Gesamtschulsystem bis zur 10. Klasse angemessener.

Schule müsse sich mehr an die Kinder richten, deren Eltern sie nicht unterstützen und über gesonderte Nachmittagsangebote wie Sport oder Musikunterricht fördern können, findet Bräu. Zudem dürften Kinder nicht schon in der vierten Klasse getrennt werden, fordert sie. Denn diese Trennung sorge dafür, dass der Lernwille schwindet und soziale Kontakte abgebrochen würden. "Ich würde diese Selektionshürde streichen", sagt die Wissenschaftlerin. "Ich finde ein Gesamtschulsystem bis zur 10. Klasse angemessener."

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