Oben: grüne Wiese und ein Gebäude der Landeswasserversorgung. Ein paar Meter tiefer: ein dunkler Rachen tut sich auf. 1,9 Kilometer Trinkwasserstollen. Ein Tunnel, der vor 107 Jahren zwischen Oberkochen und Essingen in den Fels geschlagen, gebohrt und gesprengt worden ist. Damit die Menschen auch im Großraum Stuttgart, im Remstal und im Hohenlohischen das gute Wasser aus dem bayerisch-schwäbischen Donauried trinken können.
Normalerweise schießt die gewaltige Masse von 2.000 Litern Trinkwasser pro Sekunde durch die knapp drei Meter hohe Röhre. Jetzt ist gerade alles trocken, denn seit einem Jahr bringen Bauarbeiter das betagte Bauwerk für fast fünf Millionen Euro wieder auf Vordermann. Währenddessen hält ein exakt parallel verlaufender Stollen die Trinkwasserversorgung aufrecht.
Jetzt aber genug gezögert, rein in ins Ungewisse. Die Besucherinnen und Besucher stecken in weißen Ganzkörper-Schutzanzügen und haben Stirnlampen am Kopf. Das Licht lotst sie Meter für Meter durchs Gestein. Notausgänge? Keine da. Wer drin ist, muss weitergehen. Von irgendwoher ist immer wieder ein Wummern zu hören. Da sind andere Menschen! ein gutes Gefühl. Die müssen an der Baustelle sein - es kann nicht mehr weit sein. Darunter verläuft die Europäische Wasserscheide.
Im Jahr 1916 baute die neu gegründete Landeswasserversorgung die Trinkwasserleitung durch den Stollen. Doch mit 107 Jahren hat sie ein paar Alterserscheinungen. Bernhard Röhrle von der Landeswasserversorgung zeigt auf die Narben des Stollens: "Hier sieht man gut, der Stollen hatte einzelne Risse, durch die das Grundwasser aus dem Berg eindringen konnte. Diese Risse haben wir abgedichtet." Jetzt wird ein Spritzbetonmantel auf die gesamte Länge des Stollens aufgebracht.
Ein schmutziger Tretroller lehnt kurz vor der Baustelle an der Wand. Mit dem Roller - und auch manchmal mit Rädern - fahren die Arbeiter hinein in die Röhre.
Trinkwasserstollen wurde mit Hand, Bohrer und Dynamit in den Fels gebrochen
Die Landeswasserversorgung baute den Stollen kurz nach ihrer Gründung: inmitten der Wirren des 1. Weltkriegs. Und zwar als Trinkwasserleitung und gleichzeitig Trinkwasserspeicher. Bernhard Röhrle tätschelt respektvoll die leicht gebogene Wand. Und erinnert daran, wie mühsam das damals für die Arbeiter war - im Gegensatz zu heute, wo im Bergbau viel mit Maschinen und Laser gemacht wird. "Die haben mit der Hand erstmal Steine herausgebrochen, dann sind sie mit dem Bohrer rein, haben Dynamit reingesteckt, sind weggerannt, wieder hergekommen, haben Steine herausgepickelt und -geschaufelt."
Auch der Technische Geschäftsführer der Landeswasserversorgung, Frieder Haakh, ist voller Respekt für die einstige Arbeit, die von einer kleinen Dampflok unterstützt wurde. Doch was macht eine Dampflok? Haakh: "Da kommen jede Menge Ruß und Dampf oben raus. Der Stollen war bestimmt gefüllt damit. Unter diesen Bedingungen mussten die Arbeiter schuften. Heute unvorstellbar und gleichzeitig: eine Pioniertat!" Außerdem staune er, wie akkurat und gerade der Stollen ausgerichtet ist. Zu Tode gekommen sei bei den Arbeiten dem Wissen von Röhrle und Haakh nach niemand. Doch Kriegsgefangene wurden eingesetzt.
Knapp Halbzeit für die Sanierung: 850 Meter sind geschafft
Bei Meter 850, das zeigt ein Schild an, steht plötzlich ein Mann mit Laterne und Hut da. Der "Stollengeist". Den hat die Landeswasserversorgung für den Besuch heute arrangiert. Der Geist erzählt, dass er hier schon seit über hundert Jahren "hause" und ziemlich überrascht gewesen sei, als plötzlich die Bauarbeiter mit Lärm und Dreck in seinem Wohnzimmer zugange waren. Doch er habe Verständnis. Sei ja alles für den guten Zweck. Trinkwasser für Menschen.
Endlich geht es in die zweite Hälfte der Tunnelstrecke. Bislang ging alles gut, die Schritte wurden sicherer und zügiger. Ab hier ist schon alles schick: Der Feinputz ist drauf. So soll die ganze Röhre aussehen, wenn sie in eineinhalb Jahren wasserdicht ist.
In anderthalb Jahren fließt wieder Trinkwasser durch den Stollen
Am Ende des fast zwei Kilometer langen Tunnels ist da eine kleinere, runde Röhre. Hier fließt das Wasser nach der Passage durch den Stollen weiter Richtung Stuttgart. Noch steht Baustellenwasser auf dem Grund. Doch wenn der Stollen fertig ist, wird hier alles desinfiziert und der Stollen zwei Meter hoch geflutet. Dann fließen wieder, wie die über hundert Jahre vorher, 50 Millionen Kubikmeter Trinkwasser pro Jahr hindurch. Bis zur nächsten Sanierung in einhundert Jahren. Um die müssen sich dann unsere Nachfahren etwa ab dem Jahr 2123 kümmern...