Für den Ulmer Arzt Michael Schiemer war es eine Herzensangelegenheit, als Mediziner in den Slums von Bangladesch auszuhelfen. Zuvor hatte er 40 Jahre als Orthopäde in Neu-Ulm in einer Gemeinschaftspraxis Patientinnen und Patienten behandelt.
Mit 66 Jahren ging er jedoch nicht in den Ruhestand, sondern wagte etwas Neues. Inzwischen plant er seinen nächsten Einsatz mit der Hilfsorganisation German Doctors. Im SWR-Interview berichtete er über seinen ersten Einsatz als Arzt in Bangladesch.
SWR Aktuell: Warum war ausgerechnet Bangladesch ihr Herzenswunsch für einen Auslandseinsatz?
Michael Schiemer: Es war eigentlich eher Zufall. Auf der anderen Seite war es aber auch wegen des Klimawandels, weil man da vorher sehr viel gelesen hat. Dann hab ich gedacht: 'Wenn schon, denn schon: Dann gehen wir da mal hin'.
SWR Aktuell: Was war Ihr erster Eindruck, als Sie am Flughafen in diesem armen Land ausgestiegen sind?
Schiemer: Das eher Lustige war: Ich hab vorher angefragt, wer mich abholt und wie man mich erkennt. Und die Antwort war: Das mit dem Erkennen wird von unserer Seite aus nicht wirklich schwierig sein, weil Sie der Einzige sind, der irgendwie aus dieser Menge an Menschen heraussticht...
SWR Aktuell: ...als weißer Mensch...
Schiemer: Das war wirklich der Fall. Aber ich kenne das. Ich war in Asien und in Dhaka (in der Hauptstadt von Bangladesch) vor gut 40 Jahren. Es war wirklich sehr, sehr erschreckend damals: Da ist die Menschenmenge, aber auch die Nähe und der Lärm, der Smog, alles zusammen. Und trotzdem ist es für mich nichts, was bedrohlich erschien, es war völlig okay.
SWR Aktuell: Bei welchen Krankheiten und Beschwerden konnten Sie helfen? Sie sind ja in Neu-Ulm als Orthopäde tätig gewesen.
Schiemer: Das ist schlicht und einfach Tropenmedizin. Und man ist natürlich auch Arzt und nicht nur Orthopäde. Da gibt es wahnsinnig viele Hauterkrankungen, außerdem viele kranke Kinder mit Diarrhö, also mit Durchfallerkrankungen. Und viele orthopädische Probleme, weil die Menschen unglaublich hart arbeiten müssen und entsprechend auch orthopädische Probleme haben.
SWR Aktuell: Bangladesch ist ja auch bekannt für Nähfabriken. Hatten Sie Näherinnen in Behandlung?
Schiemer: Ja, auch. In einem der Slums war in der Nähe auch eine Nähfabrik und an einem Tag hat diese Fabrik gebrannt. Es sind auch, glaube ich, zwei oder drei Menschen umgekommen. Was ich von den Näherinnen höre, ist echt hart. Zum Teil ist es eine extrem anstrengende Arbeit - meistens unklimatisiert, Außentemperatur 35 Grad und im Innern der Fabrik dann 40 Grad. Zwölf Stunden Arbeit, dazu Schichtarbeit, oft auch nachts. Das hat man den Frauen angesehen.
SWR Aktuell: Konnten Sie als Arzt helfen?
Schiemer: Man sagt immer: 'Das ist so ein Tropfen auf den heißen Stein'. Aber ich finde, selbst so ein Tropfen ist was Tolles. Ob es ein kleines Kind mit Krätze war - das gibt es dort ganz oft. Diese Wunden infizieren sich dann so, dass es sein kann, dass ein Baby innerhalb weniger Tage daran stirbt. Ich kann dann wenigstens mit einem Antibiotikum helfen, das von den German Doctors gespendet wird.
SWR Aktuell: Wie groß waren für Sie die Strapazen in diesem feucht-heißen Klima?
Schiemer: Die waren vor allem in der Großstadt Chittagong erheblich. Die Zentrale ist mitten in der Stadt - das heißt 24 Stunden lang Lärm und erheblichen Smog, den wir uns kaum vorstellen können. Ich bin jemand mit einer sehr stabilen Gesundheit und es ging mir wirklich gut.
SWR Aktuell: Sie mussten ja vorher auch einen Stresstest durchmachen.
Schiemer: Das war ein richtiges Trainingslager, bei dem man schon körperlich an seine Grenzen kommt. Und mit einem Auswahlverfahren, nach dem von 25 noch 12 übrig blieben, darunter ich. Das ist schon Stress. Resilienz ist für mich das Wichtigste.
SWR Aktuell: Wie war die Begegnung mit den Menschen? Da ist ja meistens ein Übersetzer dabei. Hatten Sie dennoch einen direkten Draht zu ihnen?
Schiemer: Ja, das ging wider Erwarten gut. Das geht auch durch Berührung. Bei den Müttern mit ihren Kindern sowieso. Dadurch bekommen die Mütter auch schnell Vertrauen. Und man darf ja nicht vergessen: Es ist ein muslimisches Land. Mädchen sind "weniger Wert" als Jungs. Es gab unglaublich viele psychische Problematiken.
SWR Aktuell: Haben Sie bei all dem Elend auch für sich etwas gelernt oder etwas Schönes mitgenommen?
Schiemer: Ich habe ganz viel Schönes mitgenommen. Erstens weitet sich der Blick hinsichtlich unserer Probleme. Es macht auch demütig. Und ich bin mit dem Gefühl zurückgekommen, dass wegen des Klimawandels ein Umdenken notwendig ist. Der ist in Bangladesch an jeder Ecke spürbar.
SWR Aktuell: Wann ist Ihr nächster Einsatz im Ausland geplant?
Schiemer: Ich gehe davon aus, dass es im März 2024 sein wird. Ob es wieder Bangladesch wird - das ist noch nicht ganz sicher, aber ich werde bestimmt nochmal hingehen.