Im Rennen um das Präsidentschaftsamt in der Türkei hat sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan am Sonntag gegen den Kandidaten der Opposition, Kemal Kilicdaroglu, durchgesetzt. Erdogan hat bei der Stichwahl rund 52 Prozent der Stimmen erhalten, sein Kontrahent rund 48 Prozent, wie die türkische Wahlbehörde am späten Sonntagabend mitteilte. Von den wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Baden-Württemberg hatte gut die Hälfte, rund 126.000 Menschen, bei der Wahl ihre Stimme abgegeben.
Warum haben so viele Türken in BW Erdogan gewählt?
Viele Menschen in ganz Deutschland und in Baden-Württemberg - darunter auch Politikerinnen und Politiker - kritisieren die Freude über einen "unfairen" Wahlsieg Erdogans. Kermin Arpad, Geschäftsführer des Türkischen Forums Stuttgart e.V., erklärte in der Fernsehsendung SWR Aktuell Baden-Württemberg, warum viele Türkinnen und Türken in Deutschland für Erdogan gestimmt haben. "Einerseits kennen sie die Türkei nur aus einer gewissen Distanz", so Arpad. Man bekomme nur das mit, was man über Bekannte oder die türkischen Medien höre, lese und sehe.
"Aber das ist nicht immer das, was die Lebensrealität der Menschen in der Türkei widerspiegelt, auch die wirtschaftliche oder die politische Lage. Das prägt das Bild und die Entscheidung der Menschen hier in Deutschland." Dazu komme, dass die Türkischstämmigen in Deutschland einen positiven Blick auf die Errungenschaften Erdogans der letzten 20 Jahre hätten. "Straßen und Krankenhäuser wurden gebaut, der Städtebau ist vorangeschritten und da spielen die Themen wie die Menschenrechte oder die wirtschaftliche Lage nicht so eine entscheidende Rolle", sagte Arpad.
In Stuttgart gehen die Meinungen über den Wahlsieg Erdogans aber auseinander. Viele Türkinnen und Türken freuen sich, doch andere wünschen sich Veränderung. Eine Passantin zeigte sich enttäuscht über die Niederlage von Kilicdaroglu: "Ich denke, dass die Frauenrechte in der Türkei mittlerweile sehr arg gefährdet sind, deswegen bin ich wählen gegangen."
Schmid und Aras: Wahlkampf in der Türkei war unfair
Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD, sagte dem SWR, die Opposition habe bemerkenswert gut abgeschnitten. Zum ersten Mal habe ein Präsidentschaftskandidat nicht auf Identitätspolitik und kulturelle Herkunft gesetzt. Darauf lasse es sich aufbauen in der Opposition.
Gleichzeitig betonte Schmid, man solle weiterhin darauf setzen, dass sich türkischstämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger auch in Deutschland politisch engagieren, wie beispielsweise bei den Kommunalwahlen im Juni 2024. "Ich hoffe, dass viele Türkischstämmige und auch Migrantinnen und Migranten sich hier stärker einbringen, denn die Zukunft ihrer Kinder, die Zukunft ihrer Arbeit, die Zukunft ihrer Bildung und Ausbildungschancen entscheiden sich hier in Deutschland", so der Politiker am Dienstag.
In Baden-Württemberg gibt es junge Türken, die jetzt nicht mehr in ihrer Heimat leben wollen:
Auch Baden-Württembergs Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) bezeichnete den Wahlkampf in der Türkei als unfair. Dafür seien 48 Prozent für die Opposition beachtlich. "Der Wunsch nach Freiheit, nach Demokratie, nach Rechtsstaatlichkeit - das zeigen diese 48 Prozent", so Aras. Deutschland müsse jetzt von Staatspräsident Erdogan und der Türkei fordern, dass Prinzipien wie Menschenrechte und Pressefreiheit eingehalten werden, erklärte Aras.
Autokorsos und Auseinandersetzungen nach Türkei-Wahl in BW
In Baden-Württemberg haben viele Erdogan-Anhänger am Sonntagabend dessen Wahlsieg gefeiert. Unter anderem in Stuttgart, Mannheim, Böblingen und Heilbronn gab es Straßenpartys und Autokorsos.
Es kam auch zu Zwischenfällen - in Stuttgart sogar zu einer Messerstecherei, wobei eine Person kurzzeitig in Lebensgefahr schwebte. Die Polizei ermittelt wegen des Verdachts der versuchten Tötung. In Mannheim kam es am Sonntagabend laut Polizei zu Provokationen und "vereinzelt auch körperlichen Auseinandersetzungen" mit Passanten. Ermittelt wird den Angaben zufolge wegen eines Videos in den sozialen Medien. Es zeige einen Mann, der augenscheinlich mit einer Schusswaffe in einem Cabrio sitze.
Schmid: Wahlergebnis nicht repräsentativ für türkische Gemeinde in Deutschland
Der baden-württembergische Grünen-Politiker und Bundesagrarminister Cem Özdemir kritisierte das Wahlverhalten und die Feiern der Erdogan-Sympathisanten deutlich. In seinem Twitteraccount schrieb er am Sonntag, hiesige Erdogan-Anhänger müssten für die Folgen dieser Wahl nicht einstehen - viele Menschen in der Türkei durch "Armut und Unfreiheit" aber schon. In einem weiteren Post heißt es, die Autokorsos seien keine Feiern harmloser Anhänger eines etwas autoritären Politikers.
Der SPD-Politiker Nils Schmid sprach angesichts der Autokorsos von verstörenden Bildern. Man wisse aber ganz genau, dass nur 800.000 von rund 4 Millionen türkischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern wahlberechtigt gewesen seien und nur die Hälfte an den Wahlen teilgenommen habe. Deswegen sei das Ergebnis nicht repräsentativ für die türkische Gemeinde in Deutschland. "Trotzdem müssen sich diese Menschen befragen lassen, weshalb sie einen Wahlsieg bejubeln, der unter undemokratischen Bedingungen zustande gekommen ist", so Schmid.