Vier Jahre lang soll ein Ehepaar in Wildberg (Landkreis Calw) die eigene Nichte grob misshandelt haben. Narben am ganzen Körper, Züchtigungen mit Stöcken, Glätteisen oder Kabeln, sind Auszüge der Anklage, die die Staatsanwältin zum Prozessbeginn am Landgericht Tübingen verliest. Bei der Polizei haben die Angeklagten alles abgestritten, vor Gericht am Montag schweigen sie.
Kind startet mit Gewalt ins Leben
Im Jahr 2017 hat ein britisches Gericht angeordnet, dass das damals zweijährige Mädchen zur Familie seiner Tante in Wildberg kommt. Der Grund: Das Kind soll von seiner leiblichen Mutter schon in England geschlagen worden sein. Als die Kleine in Deutschland ankam, lag sie in ihrer Entwicklung zurück und hatte großen Förderbedarf. Die vier älteren, leiblichen Geschwister leben allesamt in Pflegefamilien.
Dass das Mädchen bei den Verwandten in Deutschland wohl weiter misshandelt wurde, fiel erst auf, als sich das Kind im November 2021 einer Lehrerin anvertraute. Sie werde zuhause geschlagen, sagte sie. Zu diesem Zeitpunkt fehlte das frisch eingeschulte Mädchen von 32 Schultagen elfmal. Zuvor war es seit Februar 2021 nicht mehr im Kindergarten erschienen.
Prozess: Ehepaar schweigt zu Vorwürfen
Vor Gericht möchte sich das deutsche Ehepaar mit tamilischen Wurzeln in Sri Lanka zu den Vorwürfen nicht äußern. Bei einer Vernehmung der Polizei haben sie alles abgestritten, berichtet die leitende Ermittlerin als Zeugin. Eine Sozialpädagogin des Landratsamts Calw sagt aus, dass die Angeklagten nicht daran glauben, dass die leibliche Mutter ihrer Tochter wehgetan hätte. Auch deshalb hätten sie sich sehr darum bemüht, dass das Kind in der Familie bleibt, als es darum ging, ein neues zuhause zu finden.
Ehepaar misshandelt jahrelang ohne aufzufallen?
Die Beschreibungen der mutmaßlichen Taten in der Anklage klingen drastisch und dennoch soll das Ehepaar die eigene Nichte vier Jahre lang in dieser Weise misshandelt haben, ohne aufzufallen. Ein Grund dafür ist das sogenannte Verwandtschaftspflegeverhältnis. Anders als bei einem offiziellen Pflegeverhältnis, bei dem mindestens einmal im Jahr Hausbesuche bei den Familien stattfinden, hätte das Jugendamt hier keine Pflichten und Möglichkeiten zur Kontrolle, sagt die geladene Sozialpädagogin am Tübinger Landgericht aus.
Gesellschaft Kinderschutz – Signale der Gewalt erkennen
Für Tausende Kinder in Deutschland ist das eigene Zuhause kein sicherer Ort. Sie werden geschlagen und misshandelt. Mehr als 60.000 Fälle von solcher Gewalt wurden 2020 gemeldet. Die Dunkelziffer ist um einiges höher. Wie und wo finden betroffene Kinder Schutz?
Anfang 2018 habe die Mitarbeiterin des Landratsamts persönlich einen Hausbesuch bei der Familie in Wildberg gemacht, um das Ehepaar zu beraten. Damals hatte sie die Angeklagten auf das offizielle Pflegeverhältnis hingewiesen und den betreffenden Antrag im Nachhinein zugeschickt. Dieser wurde jedoch nie ausgefüllt und zurückgeschickt. Unter anderem deshalb, und weil ein Verwandtschaftspflegeverhältnis rechtlich möglich war, kam es nicht zu einem offiziellen Pflegeverhältnis und damit nicht zu regelmäßigen Hausbesuchen.
In Entwicklung gestört: Grobe Misshandlung
Rechtlich geht die Staatsanwaltschaft Tübingen von einem schweren Fall von Misshandlung Schutzbefohlener aus. Das Mädchen sei in seiner Gesundheit geschädigt sowie in der körperlichen und seelischen Gesundheit gestört. Als die Misshandlungen auffielen, war das mutmaßliche Opfer sechseinhalb Jahre alt, sei jedoch auf dem Stand einer Drei- bis Vierjährigen gewesen. Sollten dem Ehepaar die Taten vor dem Landgericht Tübingen einwandfrei nachzuweisen sein, beträgt eine mögliche Strafe mindestens ein Jahr, höchstens zehn Jahre.
Nichte ist Nebenklägerin beim Prozess
Das mutmaßliche Opfer ist beim Prozess Nebenklägerin, im Gerichtssaal ist sie jedoch nicht. "Eine Konfrontation mit den Angeklagten ist nicht zumutbar", begründet ihr Anwalt in einem Schreiben, warum das Mädchen von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Verhandlungstermine sind bis 24. Juli angesetzt.