Fahimah Ulfat ist Muslimin, Asher Mattern ist Jude. Gemeinsam erforschen sie an der Universität Tübingen, was ihre Religionen verbindet und was sie trennt. Eine friedliche Oase in Zeiten wie diesen, könnte man meinen. Doch bereits ein halbes Jahr nach der Entstehung der Forschungsstelle steht ihre Finanzierung auf der Kippe. Fahimah Ulfat und Asher Mattern im SWR Interview über Hoffnung und Angst, den Nahostkonflikt und ihr Unverständnis über fehlende Unterstützung.
SWR: Am 7. Oktober hat die Hamas Israel angegriffen. Wie erinnern Sie beide sich an diesen Tag?
Asher Mattern: Das ist ja an einem Schabbat passiert. Und als praktizierender Jude habe ich natürlich erst mal keine Nachrichten bekommen, weil ich am Schabbat nicht ans Handy oder an den Computer gehe oder Nachrichten hören kann. Aber es sickerten allmählich durch die Sicherheitskräfte in unserer Synagoge Informationen durch. Mein Sohn hat mir dann was erzählt, aber es war wirklich so, dass niemand sich das auch nur vorstellen konnte. Also das, was man gehört hat, schien so surreal, dass man irgendwie dachte: das müssen Falschinformationen sein. Tatsächlich schloss sich an diesem Schabbat noch ein Feiertag an, sodass auch an dem Sonntag danach keine Möglichkeit vorhanden war, Nachrichten direkt zu rezipieren, also ans Internet zu gehen oder so etwas. Von daher habe ich erst am Sonntagabend wirklich Details erhalten. Und dann musste ich feststellen, dass diese horrenden Nachrichten, die man erhalten hatte, tatsächlich zutrafen und das war ein unglaublicher Schock.
SWR: Frau Ulfat, wie war das bei Ihnen?
Fahimah Ulfat: Als ich davon erfahren habe, war es für mich auch ein Schock und auch unbegreiflich. Ich habe dann sofort meinem Kollegen und anderen Freundinnen und Freunden geschrieben, von denen ich wusste, dass sie eben auch Jüdinnen und Juden sind oder eben Beziehungen zu Israel haben und habe gefragt, wie es ihnen geht. Ich habe erstmal sehr vorsichtig angefragt. Alle sagten mir dann, dass es ihnen gut gehe, dass sie aber selbst erstmal herausfinden müssen, was wirklich passiert ist.
Mattern: Vielleicht darf ich etwas anfügen. Als ich am Sonntagabend dann ins Internet gehen konnte und auch meine Mails kontrolliert habe, habe ich sofort eine Reihe von E-Mails gefunden, in denen das Mitgefühl ausgedrückt wurde, und zwar ausschließlich von Muslimen. Die erste war wirklich Frau Ulfat, aber da schlossen sich eine Reihe von anderen Menschen muslimischer Herkunft an. Das ist insofern auch wichtig zu betonen, weil ja auf beiden Seiten sonst das Gefühl besteht, dass das Leid der jeweils anderen nicht gesehen wird.
SWR: Jetzt wird seitdem viel gesprochen über das Sicherheitsgefühl der Juden in Deutschland. Hat sich für Sie da was verändert, Herr Mattern? Gibt es da für Sie ein Vorher und Nachher?
Mattern: Ich würde nicht sagen, ich habe mich immer sicher gefühlt. Obwohl man sich auch immer ein Stück weit unsicher fühlt. Also ich selbst gehe immer deutlich sichtbar als Jude durch die Straßen, entweder mit Hut oder mit mit Kippa und lasse mir von dieser Unsicherheit nicht mein Verhalten diktieren. Ich bin auch kein in dem Sinne ängstlicher Mensch. Aber im Hinterkopf hat man natürlich immer: es kann jederzeit etwas passieren. Im Moment wahrscheinlich auch verstärkt. Zum Beispiel wenn ich in der Bahn fahre. Ich pendle ja zwischen Berlin und Tübingen. Viele Stunden lang sitze ich dort mit Kippa, mache meine Gebete mit Gebetsschaal und so weiter. Da ist man natürlich schon exponiert und fragt sich manchmal, was passieren kann. Aber ich lebe nicht permanent in Angst. Ich muss dazu sagen: wenn ich Erfahrungen gemacht habe mit Anfeindungen, dann waren das vorwiegend keine Muslime. Sondern Deutsche ohne Migrationshintergrund. Man weiß einfach: Man wird gesehen, man wird wahrgenommen und wird nicht immer positiv wahrgenommen.
SWR: Frau Ulfat, Sie sind Muslimin, Sie tragen ein Kopftuch. Fühlen Sie sich in Deutschland immer sicher?
Ulfat: In dem Umfeld, in dem ich mich bewege, fühle ich mich sehr sicher. Ich bin ja in einem universitären Umfeld und meine Kontakte sind eben auch zu diesen Personen. Und von daher ist es so, dass ich mich schon relativ sicher fühle. Auch in meiner Jugend habe ich mich sicher gefühlt und das liegt wahrscheinlich an den Kontakten, die ich hatte und habe. Aber ich weiß natürlich auch von Menschen, die jetzt viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind oder so, dass sie schon Anfeindungen ausgesetzt sind.
SWR: Wie erleben Sie die Diskussion derzeit in der muslimischen Gemeinschaft? In Ihrer Familie oder mit Freunden? Wie wird da über den Nahostkonflikt gesprochen?
Ulfat: Da muss man tatsächlich unterscheiden, ob es jetzt Gespräche sind mit Familie und Freunden, Gleichgesinnten, sage ich mal. Also die, die alle sehr verurteilen, was die Hamas getan hat. Oder eben andere muslimische Gemeinschaften, wo man sich wünschen würde, dass da mehr Positionierungen stattfinden würden. Wir sehen natürlich, dass dieser Angriff verheerende Folgen für Israel hatte, aber auch für die Menschen im Gazastreifen. Es gibt nur Leid, es gibt nur Opfer. Und mein Mitgefühl gilt nicht nur den Palästinenser*innen, sondern wirklich allen Opfern und ihren Familien. Und das ist uns wichtig, dass wir nicht in irgendwelche Polarisierungen oder Hass verfallen, sondern immer wirklich auch versuchen, das Leid auf beiden Seiten zu sehen.
SWR: Herr Mattern, tun wir uns in Deutschland allgemein schwer damit, Israel oder die israelische Regierung zu kritisieren?
Mattern: Ich glaube, das ist schon sicherlich als rhetorische Frage gemeint. Ich meine, es ist offensichtlich, dass es aufgrund der Geschichte in Deutschland eine sehr, sehr einseitige Identifizierung mit Israel gibt und dass das Leid der Palästinenser doch sehr weit ausgeblendet wird. Und das ist wirklich auch ein Problem. Denn wenn immer betont wird, dass wir die Lehren aus der Schoah, aus dem Holocaust ziehen sollten, dann ist natürlich immer die Frage: Was heißt das? Heißt das eine eindeutige Verbindung mit dem jüdischen Volk und dann auch noch mit dem jüdischen Staat, egal für welche Werte er gerade steht? Oder heißt es, dass man für bestimmte Werte eintritt, die wir gelernt haben sollten? Und es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, dass die deutsche Politik selbst hinter einer Regierung steht, die in Israel Werte vertritt, die eigentlich der aktuellen Regierung der Bundesrepublik Deutschland als solche konträr gegenüber steht. Und dass wir nicht die Kräfte stützen, die auch in Israel kritisch sind und versuchen, die Friedensbewegung voranzutreiben. Da fehlt sehr viel und da fühlen sich sicherlich die kritischen Israelis auch sehr allein gelassen.
SWR: Sie bemühen sich um einen interreligiösen Dialog. Gibt es diesen Dialog im Moment überhaupt oder ist er gescheitert?
Mattern: Im Moment müssen wir natürlich unterscheiden. Wenn Sie von dem interreligiösen Dialog sprechen, dann beziehen Sie sich wahrscheinlich vor allem auf die deutsche Gesellschaft. Bei Menschen, die ohnehin an diesem Dialog interessiert sind, ist wahrscheinlich der Druck noch mal gewachsen. Da liegt einfach viel Arbeit vor uns. Wir sehen allgemein, dass der Wille, dieses Gespräch zu führen, sehr groß ist und vielleicht noch größer geworden ist. Anders ist das bei den Leuten, die sowieso in einer Opposition stehen und für die diese antagonistische Haltung schwer verhandelbar ist.
SWR: Sind es nicht gerade die Leute, die man auch versuchen muss zu erreichen? Diese Leute, die keinen Mittelweg finden wollen?
Mattern: Natürlich, aber das ist ja unsere Arbeit. Deshalb haben wir unter anderem diese Forschungsstelle gegründet. Aber das ist im Moment eben sehr schwer. Und es ist tatsächlich auch so, dass die deutsche Öffentlichkeit im Moment nicht unbedingt hilfreich ist. Wir sehen ja, dass die deutsche Öffentlichkeit teilweise auch zur Spaltung zwischen Juden, Jüdinnen, Muslimen und Musliminnen beiträgt. Es gibt immer wieder in verschiedenen Medien eine starke Positionsnahme. Im „Focus“ gab es jetzt einen Artikel, der betitelt war „Juden oder Aggro-Araber: Wen wollen wir halten?“ Wenn man solche Fragen stellt, dann führt es eigentlich nur dazu, dass die Muslime sich noch weiter ausgegrenzt fühlen, als sie sich ohnehin ausgegrenzt fühlen. Und das wird langfristig nicht nur den Juden, sondern unserer ganzen bundesdeutschen Gesellschaft schaden.
SWR: Haben Sie Angst, dass der antimuslimische Rassismus noch immer weiter angestachelt wird im Moment?
Ulfat: Einerseits der antimuslimische Rassismus, aber auch andererseits einfach die Befürchtung einer potenziellen Radikalisierung von jungen Musliminnen und Muslimen. Denn wenn man eben diesen Eindruck hat, den Herr Mattern gerade beschrieben hat, dann kann es dazu führen, dass man sich selbst abgrenzt. Und dass man durch soziale Medien in irgendwelche Verschwörungstheorien und Hetze reingezogen wird. Dass man immer mehr nur in seiner eigenen Bubble lebt. Und das finde ich hochproblematisch und gefährlich für unsere Gesellschaft insgesamt.
SWR: Wie diskutieren Sie derzeit mit Ihren Studierenden? Hitzig, lebhaft? Wie sind da so die Diskussionen?
Mattern: Also die muslimischen Studierenden erlebe ich als sehr reflektiert, muss ich sagen. Das ist natürlich auch dem universitären Raum geschuldet, dass das so ist. Aber grundsätzlich haben sie mehr Fragen. Sie wollen mir Fragen stellen und versuchen zu verstehen. (…)
Ich gehe aber auch oft in Berliner Schulen, zu Schülerinnen und Schülern und zwar zusammen mit einem Imam. Und da wird sehr, sehr deutlich, dass es wichtig ist, dass die muslimischen Schülerinnen und Schüler das Gefühl haben, sie können in einem sicheren Raum ihre Wut und ihre Ängste zum Ausdruck bringen. (...) Das Problem in der aktuellen Situation ist, dass die Gefühle nicht zum Ausdruck gebracht werden können. Und dass diese Gefühle dann in gewisser Weise in Wut umschlagen oder in Ausgrenzungserfahrungen. Aber in dem Moment, wo ich als Rabbiner in diesen Schulen bin und vielleicht auch ein Stück weit Wut erst mal aufnehme und dann meine Perspektive verdeutliche, in diesem Moment schlägt das sofort um. Dann wollen die Schüler immer weiter reden und mich gar nicht gehen lassen.
SWR: Eigentlich haben Sie Ihre Forschungsstelle genau im richtigen Moment gegründet, wenn man das so sagen kann.
Mattern: Ja und nein. Könnte man denken. Aber es müsste viel mehr finanziert werden. Unsere Forschungsstelle hat bisher keine Finanzierung. Obwohl man ja eigentlich erwarten würde, dass gerade jetzt deutlich wird, wie wichtig unsere Forschung ist.
SWR: Was heißt das? Ihre Forschungsstelle hat keine Finanzierung?
Mattern: Bisher tragen wir uns noch von Geldern, die wir mal zur Gründung bekommen haben, vom ehemaligen Rektor Engler. Aber im Moment haben wir keine dauerhafte Finanzierung. Wir leben also noch von Geldern, die uns vor zwei Jahren zugesagt wurden und die natürlich auch demnächst nicht mehr reichen werden, um weitere Aktivitäten durchzuführen.
SWR: Aber wie soll es weitergehen? Wenn Sie bereits jetzt wissen, dass Ihre Gelder zeitnah zu Ende gehen?
Mattern: Wir hoffen natürlich, dass es irgendwann vielleicht doch über die Universität eine Finanzierung gibt. Oder aber über Drittmittel, um die wir uns jetzt kümmern. Allerdings fehlt uns teilweise doch, sagen wir mal, das Gefühl, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, wie dringend nötig so eine Forschungsstelle ist.
SWR: Ärgert Sie das?
Mattern: Ja, vielleicht. Sagen wir: es ist schon fast mehr ein unglaubliches Erstaunen, dass es da nicht mehr Unterstützung gibt. Natürlich ärgert es einen auch ein Stück weit, aber das ist schon fast in den Hintergrund gedrängt. Durch dieses Erstaunen.
Ulfat: Diese Forschungsstelle ist uns einfach unheimlich wichtig, weil wir schon so lange daran arbeiten. Sollten wir keine Finanzierung erhalten, werden wir natürlich weiterhin unsere eigenen Ressourcen da reinstecken. Also wir investieren sehr viel Zeit in unser Projekt, das sind ja unsere Ressourcen. Das werden wir da natürlich auch weiterhin so machen. Aber um wirklich effektiv und nachhaltig arbeiten zu können, brauchen wir eine Unterstützung, eine finanzielle Unterstützung.
SWR: Mit den jetzigen Mitteln: Wie lange gibt es ihre Forschungsstelle noch?
Mattern: Das kommt natürlich darauf an, wie wir mit den Ressourcen haushalten. Wir haben jetzt noch zwei größere Projekte, die wir planen. Wir wollen eine Tagung durchführen im Juni, in der es um Diskriminierungserfahrungen und Reflexion von jüdischer und muslimischer Seite geht. Wo wir aber auch Sinti und Roma einladen. Denn wir wollen klar machen: Diskriminierungserfahrungen betreffen nicht nur Juden und Jüdinnen, Muslimen und Musliminnen, sondern sind ja weiter gefasst.
SWR: Wie blicken Sie beide in die Zukunft?
Ulfat: Also ich persönlich - auch wenn die Nachrichten eigentlich tagtäglich schlimmer werden und man immer fassungsloser wird - blicke dennoch mit Hoffnung in die Zukunft. Der Koran erinnert uns daran, dass nach Herausforderungen und schwierigen Zeiten Erleichterung folgt. Und das gibt mir irgendwie auch die Hoffnung und die Zuversicht, dass es auch in dieser Region irgendwann wieder Frieden geben wird. Und dass die Menschen wieder aufeinander zugehen können. Das ist mein Wunsch und meine Hoffnung.
Mattern: In unserem Team ist Frau Ulfat für Hoffnung zuständig ist. Ich bin da eher skeptischer, was die Situation in Israel angeht. Da ist kaum noch absehbar, wie es da zum Beispiel eine Zweistaatenlösung geben sollte. Eine Einstaatenlösung natürlich noch viel weniger. In Deutschland gibt es ein starkes Erwachen des Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung. Nicht unbedingt bei Muslimen, aber verstärkt natürlich noch durch den Konflikt zwischen Muslimen und Juden. Und inzwischen muss man ja das Wiedererwachen des Nationalismus international verorten. Faschistoide Tendenzen überall auf der Welt: sei es in Ungarn, sei es in Argentinien. Oder wir können ja wirklich nicht ausschließen, dass Trump wiedergewählt wird. Das Erstarken der AfD ist deshalb für mich nur ein Mosaikstein in diesem ganzen Bild. Deswegen bin ich eigentlich eher weniger zuversichtlich.