Tübingen kann durch seine Lage gar nicht zu hundert Prozent barrierefrei sein, denn es ist hügelig. Rollstuhlfahrer ohne Antrieb tun sich damit schwer. Doch auch mit elektrischem Antrieb ist es für Menschen im Rollstuhl anstrengend, die Tübinger Altstadt zu besuchen. Denn fast überall gibt es Pflaster. Wer blind ist, tut sich mit der Oberfläche des Bodens ebenfalls nicht leicht, denn der Blindenstock verhakt sich schnell darin. Bei einem Rundgang durch die Stadt zeigen Maurice Donalies und Matthis Kassner, warum Tübingen ihrer Meinung nach kein guter Ort für Menschen mit körperlicher Behinderung ist.
Blindenleitsysteme in Tübingen
Maurice Donalies ist 20 Jahre alt und hat ein Sehvermögen von etwa zwei Prozent. Damit erkennt er Umrisse und Kontraste. Er ist auf Führlinien am Boden angewiesen, die er mit seinem Blindenstock ertasten kann. In der Tübinger Altstadt gibt es diese aber gar nicht. Aus Sicht der Stadt hat die Regenrinne eine ähnliche Funktion. Tatsächlich sei sie sogar gemeinsam mit blinden Menschen entwickelt worden. Für Donalies ist das unverständlich. Die Farbe der Linie hebe sich nicht vom Rest des Bodenbelags ab. Außerdem bleibe er ständig im Straßenpflaster hängen und ramme sich den Stock in den Bauch.
Etwas weiter, am Tübinger Bahnhof, gibt es ein richtiges Blindenleitsystem. Laut Donalies ist das grundsätzlich auch gelungen. Durch die Baustelle aber leiteten einen die Linien oft in Bauzäune.
Fehlende Ampeln und Kopfsteinpflaster: im Rollstuhl schwierig
Genau wie Donalies fühlt sich Matthis Kassner oft nicht gesehen von der Stadt. Der 24-Jährige sitzt von Geburt an im Rollstuhl. Manchmal muss er in die Stadt zu seinem Optiker. Mit seinem elektrischen Rollstuhl kommt er zwar die Hügel hoch und wieder runter. Sein Problem ist aber auch das Kopfsteinpflaster, denn darüber zu fahren ist für ihn unangenehm. Auf dem Weg zur Arbeit muss er Straßenüberquerungen ohne Ampel und ohne Zebrastreifen meistern. An einer Stelle gibt es zwar eine Ampel, aber zwischen der Straße und dem Bordstein ist eine etwa zehn Zentimeter breite Rille, in der er mit seinen Rollstuhlreifen oft hängen bleibt.
Beauftragte für barrierefreies Bauen haben vieles im Blick
Der Straßenübergang, der für Kassner auf seinem Arbeitsweg so schwierig ist, ist laut städtischen Beauftragten für barrierefreies Wohnen Teil eines neuen Wohngebiets, das gerade entsteht. Der Umbau des Übergangs sei geplant, aber erst, wenn die Wohnhäuser in etwa zwei bis drei Jahren fertig sind. Eine kurzfristige Lösung sei nicht möglich, denn die Rille brauche man für das Ablaufen des Regens, so Axel Burkhardt, einer der Beauftragten.
Der Tübinger Marktplatz mit seinen teils weit herausragenden Pflastersteinen solle dieses Jahr in Sachen Barrierefreiheit in den Blick genommen werden. Eventuell könnten dann auch einige Steine abgeschliffen werden, hofft Julia Hartmann, ebenfalls Beauftragte für barrierefreies Bauen der Stadt Tübingen.
Ein Ringen der Interessengruppen
An manchen Stellen in Tübingen sei es allerdings schwer, etwas zu machen. Zum Teil sei die Stadt nicht zuständig, mal würden die Tübinger Gegebenheiten einen Umbau unmöglich machen. Dann gebe es da noch die vielen unterschiedlichen Interessen bei Bauprojekten. Das aufgestellte Pflaster sei zum Beispiel gut für ältere Menschen, damit sie nicht rutschen. Für Menschen im Rollstuhl oder mit Blindenstock sei es wiederum schlecht. So sei es ein ständiges Abwägen, erklären die städtischen Beauftragten.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Es gibt viele Stellen in Tübingen, die nicht barrierefrei sind. Manche werden es auch nie werden. Doch bei der Stadt ist zumindest der Wille da, Tübingen so barrierefrei wie möglich zu machen.