Die Tübinger Tafel feierte am Samstag 25-jähriges Jubiläum. Am 9. Juni 1998 wurde sie gegründet, fünf Jahre nach Gründung der ersten Tafel Deutschlands in Berlin. Zu Beginn hatte der Laden nur zwei Tage die Woche geöffnet und mit 258 Haushalten und 643 Personen noch einen überschaubaren Kundenstamm.
Neue Einkaufsregeln seit erster Flüchtlingswelle 2015/2016
Bereits zehn Jahre nach der Gründung hatte sich der Kundenstamm nahezu verdoppelt, sodass Räumlichkeiten und ehrenamtliche Helfer "mitwachsen" mussten. Wirklich große Veränderungen seien auf die Tübinger Tafel aber 2015/2016 zugekommen, als eine große Zahl an Flüchtlingen aus dem Nahen Osten nach Deutschland kam, so der ehrenamtliche Helfer Willi Egeler gegenüber dem SWR.
Um alle Bedürftigen gleichermaßen versorgen zu können und ein möglichst konfliktfreies Miteinander zu gewährleisten, seien die Einkaufsregeln verändert worden. Jede Bedarfsgemeinschaft habe nur noch einmal pro Woche einkaufen dürfen, jeder Berechtigte habe eine digitale Karte mit Foto ausgestellt bekommen und nur noch an einem zugewiesenen Tag zu einer bestimmten Uhrzeit für eine Viertelstunde einkaufen dürfen.
Bedürftige berichten von Futterneid, Gedränge, Knappheit
Maria (Name von der Redaktion geändert) ist 60 Jahre alt, alleinerziehend mit zwei Töchtern und Tafelkundin seit zehn Jahren. Sie hat sich von der Hauptschule zum Abitur hochgearbeitet, mehrere Studiengänge angefangen, aber abgebrochen, als sie schwanger wurde. Gearbeitet hat sie immer, aber das Geld reicht ihr nicht - sie braucht die Tafel und sieht es als Geschenk an, dass es sie gibt: "Das ist nicht nur Essensausgabe - die Menschen von der Tafel kümmern sich um einen, sprechen mit einem, sind so freundlich und zuvorkommend. Sie sind Engel auf Erden." Als 2015/2016 sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, habe man das auch in Tübingen deutlich gemerkt. Plötzlich habe es geheißen:
Tafelkundin fühlt sich als Einheimische etwas an den Rand gedrängt
Diese Zeit sei sehr schwierig gewesen, es sei zu Gedränge gekommen und eine Art Futterneid habe sich breit gemacht. Sie selbst ist auch nicht in Deutschland geboren, lebt aber schon seit über 50 Jahren in diesem Land und fühlt sich als Einheimische etwas an den Rand gedrängt. "Es gibt so viele Spendenaktionen, die ausschließlich für Flüchtlinge sind und nicht für Einheimische. Die Spendenbereitschaft für Flüchtlinge ist einfach größer."
Auch falle es ihr zunehmend schwer, sich als Tafelkundin zu "outen", denn heute werde man gleich abgestempelt und diskriminiert. "Bedürftige werden oft als dumm dargestellt." Früher sei das anders gewesen, da sei sie offen damit umgegangen.
Thomas, Tafelkunde seit der ersten Stunde wünscht sich neues Gesetz
Thomas ist Tafelkunde seit der ersten Stunde. Mit 28 kam er zum ersten Mal zur Lebensmittelausgabe, heute ist er 53. Nach einem Burn-Out bekam er keine Arbeit mehr. Dass die Lebensmittel knapp sind, bemerkt auch er, doch er macht in erster Linie die Gesetze dafür verantwortlich. In Frankreich gibt es seit 2016 ein Gesetz, das verbietet, dass nicht verkaufte Lebensmittel, weggeworfen werden dürfen.
So ein Gesetz wünscht sich Thomas auch für Deutschland. Er ist der Meinung, dass es dann für alle genügend zu Essen gebe. So blieben ihm oft nur knapp 300 Euro oder weniger im Monat zum Leben. "Früher hat das Essen mal für eine Woche gereicht, heute ist das nicht mehr so." Auch er ist der Tafel sehr dankbar. Es sei nicht selbstverständlich, dass ältere Menschen so viel Engagement in ein so tolles Projekt stecken würden.
Corona und Ukraine-Krieg setzen Tafel weiter zu
In der 25-jährigen Entwicklungsgeschichte der Tafel kam neben der Flüchtlingswelle 2015/2016 die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg erschwerend hinzu. Wegen der überwiegenden Anzahl älterer Mitarbeiter musste die Tübinger Tafel während der Corona-Zeit vorübergehend schließen und kam laut erstem Vorsitzenden der Tafel, Reinhardt Seibert, teilweise an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Es fehlte an helfenden Händen, aber auch an Lebensmitteln.
Mittlerweile blickt Reinhardt Seibert positiver in die Zukunft. Seit knapp einem Jahr versorgt ein gemeinnütziger Verein die Tübinger Tafel mit Lebensmitteln im Wert von rund 2.000 Euro pro Woche. Nach einem Aufruf aufgrund des Ukrainekriegs zu einer Spendenaktion kamen rund 150.000 Euro zusammen.
Aufnahmebegrenzung und Wartelisten seit vergangenem Jahr
Trotz der finanziellen Unterstützung durch die Spendenaktion sei die Tübinger Tafel laut Seibert allerdings seit vergangenem Jahr gezwungen, eine "Bremse einzulegen". Zurzeit würden nur noch sechs Haushalte pro Woche als Neukunden aufgenommen. Dabei entfielen zwei Plätze auf Einheimische, zwei auf Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und zwei auf Geflüchtete aus der Ukraine. Da unter den "Tafel-Anwärtern" größtenteils Ukrainer seien, sei die Warteliste unter ihnen auch am längsten - sie müssten teils bis zum Sommer nächsten Jahres warten, um aufgenommen zu werden.
Supermärkte liefern weniger Lebensmittel seit Inflation
Belastend käme für die Tübinger Tafel hinzu, dass die Supermärkte seit Anstieg der Inflationsrate weniger Lebensmittel liefern würden. Seibert vermutet dahinter eine verbesserte Kalkulation der Märkte, andererseits aber auch neuartige Angebote der Supermärkte, um Kunden zum Kauf "angeschlagener" Waren zu animieren. Das bestätigt auch Tafelkundin Maria: "Die Supermärkte locken immer mehr mit 30-Prozent Ecken." Ein Ende der Lebensmittelknappheit sieht auch Egeler so schnell nicht. Er glaubt, dass erst das Ende des Ukraine-Kriegs die Lage entschärfen könnte.
Laut einer Statistik der Tübinger Tafel ist die Zahl der Bedürftigen stark angestiegen. Eingekauft haben 2022 rund 15.000 Haushalte mit 22.000 Erwachsenen und knapp 18.300 Kindern.