Stuttgart 21: ICE auf der Neubaustrecke Ulm-Wendlingen am Bahnhalt Merklingen

Viele Züge dürfen noch nicht auf die neue Strecke

Zulassungsprobleme bei der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm

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Frieder Kümmerer
Frieder Kümmerer

In einem Monat soll die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ans Netz gehen. Doch vor allem internationale Züge wie der TGV haben keine Zulassung für die Strecke. Und auch falls ein ICE liegen bleibt, gibt es Probleme.

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Peter G. (Name von Redaktion geändert) ist Lokführer - seit 25 Jahren. In dieser Zeit ist er schon die unterschiedlichsten Lokomotiven und Zugtypen für verschiedene Eisenbahnunternehmen gefahren. Und er kennt die komplizierten Sicherheitseinrichtungen, die einen sicheren Zugverkehr gewährleisten sollen. Bei der Neubaustrecke von Wendlingen (Kreis Esslingen) nach Ulm gebe es einige Ungereimtheiten, sagt er.

Ulm

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Am 11. Dezember geht nach zehn Jahren Bauzeit die Neubaustrecke Wendlingen - Ulm in Betrieb. Hier finden Sie Informationen zur Eröffnung, was sich für Reisende ändert und vieles mehr.

Bei der Planung sei nicht bedacht worden, so Peter G., dass viele Züge auf der Strecke überhaupt nicht fahren dürfen. "Die Kernproblematik ist die Netzzugangsvoraussetzung." Diese regelt, unter welchen Bedingungen ein Zug für eine Strecke überhaupt zugelassen ist. Das betrifft unter anderem die TGV-Züge auf ihrem Weg von Paris über Stuttgart nach München.

Strecke mit ETCS ausgestattet

Denn die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke ist mit dem neuesten Zugsicherungssystem, dem European Train Control System (ETCS), ausgestattet. Die klassischen Signalanlagen neben der Schiene gibt es nicht mehr, alles funktioniert digital. Das neue System soll europaweit Schritt für Schritt eingerichtet werden und den internationalen Eisenbahnverkehr vereinheitlichen und vereinfachen. "ETCS ist die digitale Zukunft der Eisenbahn," erklärt Hans Leister. Er ist ehemaliger Bahnmanager und arbeitet seit Jahren als Berater im Schienenverkehr. "Schon vor Jahrzehnten wurde beschlossen, dass das System in ganz Europa eingeführt wird." Wenn neue Strecken gebaut würden, sei es europäisches Recht, diese mit dem neuen Zugsicherungssystem auszurüsten. Daher sei es nur richtig und sinnvoll, dass die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Wendlingen und Ulm mit ETCS ausgerüstet wurde.

Erfahren Sie hier, wie das European Train Control System (ETCS) funktioniert:

Vorerst kein TGV auf der Neubaustrecke

Dem stimmt auch Lokführer Peter G. zu. Das Problem sei aber: "Die meisten Züge sind mit diesem neuen Sicherheitssystem noch überhaupt nicht ausgestattet." Und wenn, dann hätten sie noch eine veraltete ETCS-Version installiert, die mit der Neubaustrecke nicht kompatibel sei. Das betreffe auch den berühmtesten Schnellzug Europas: den TGV. "Dabei wurde beim Bau der Neubaustrecke immer mit dem TGV argumentiert, damit der auf der Magistrale Paris-München fahren kann", erklärt Peter G. Während die ICEs, die schon weitestgehend von der Bahn umgerüstet wurden, die Schnellfahrstrecke nehmen können, wird der TGV im internationalen Grenzverkehr weiterhin über die Geislinger Steige drum herum fahren. "Vorerst", sagt Hans Leister. "Denn irgendwann müssen die TGVs auf die neueste ETCS-Version aufgerüstet werden".

"Der TGV, um das mal an einem Beispiel festzumachen, ist sozusagen mit Windows 8 ausgestattet, aber die Strecke ist Windows 11. Und das passt nicht mehr zusammen. Sobald die TGVs mit der neuesten ETCS-Version ausgerüstet sind, können sie dort auch fahren."

Hans Leister
Hans Leister hat früher als Bahnmanager gearbeitet und ist als Berater im Schienenverkehr tätig. Das neue Zugsicherungssystem hält er für sinnvoll, aber die Bahn habe in der Planung zu spät reagiert.

Die Nachrüstung soll kommen, so die Bahn gegenüber dem SWR. "Aufgrund des engen und anspruchsvollen Zeitplanes der Fahrzeugzulassungen hat sich der Fernverkehr dazu entschlossen, die entsprechenden Zulassungsfahrten des TGV für Deutschland erst im nächsten Jahr durchzuführen. Daher werden mit der Inbetriebnahme der Neubaustrecke die TGVs zunächst noch über die alte Filstalstrecke geführt." Mit Inbetriebnahme sei die Neubaustrecke durch die ICE-Fahrten sowieso vorerst ausgelastet. Wie lange es dauert, bis die TGV-Züge dann zugelassen sind, sagt die Bahn nicht. Spätestens 2025 soll es aber so weit sein.

Wenn ein ICE auf der Strecke liegen bleibt - bleibt er erstmal liegen

Aber auch den Abschlepploks fehle noch das neue ETCS, erklärt Peter G. "Das sind Dieselloks, die zum Beispiel in Stuttgart stehen und liegen gebliebene ICEs abschleppen sollen." Doch auch diese haben für die Neubaustrecke keine Zulassung. Was passiert also, wenn ein ICE zwischen Wendlingen und Ulm ab Dezember liegen bleiben sollte?

Abschlepplokomotive BR 218
Eine Abschlepplokomotive vom Typ BR 218 steht am Stuttgarter Hauptbahnhof. Sollte auf der Neubaustrecke ein Zug liegen bleiben, kann diese Lok nur unter Sondergenehmigung die Neubaustrecke befahren.

Die Bahn hat eine Dienstanweisung an die Lokführer herausgegeben, die dem SWR vorliegt. Demnach sollen die Abschlepplokomotiven beim Befahren der Neubaustrecke mit zwei Lokführern bestückt sein, die Sicherheitssysteme der Lokomotive müssen abgeschaltet werden. "Bei der Sperrfahrt zum liegen gebliebenen Zug beträgt die zulässige Geschwindigkeit beim Fahren auf Sicht bei sichtigem Wetter bei Tag höchstens 25 Kilometer pro Stunde."

"Wenn ein Zug genau in der Mitte liegen bleibt, haben sie eine gewisse Strecke, die die Abschlepploks zurücklegen müssen. Da vergehen Stunden, in denen die gesamte Strecke gesperrt ist", sagt Peter G. In der Zeit sei zwischen Wendlingen und Ulm dann kein Zugverkehr möglich.

Die Deutsche Bahn widerspricht: Die Diesellokomotiven seien nur für den Fall, dass es auch eine Oberleitungsstörung gebe, in Bereitschaft. Ansonsten sei man mit E-Loks ausgestattet, die auch die notwendigen Zulassungen hätten, um schnell einen liegen gebliebenen ICE abschleppen zu können. "Im äußerst seltenen Fall, etwa bei einer Oberleitungsstörung auf beiden Gleisen, stehen Loks mit Dieselantrieb bereit, die unter genehmigten Sonderregeln die Strecke befahren dürfen. Auch hierfür gibt es einen erprobten betrieblichen Prozess", so die Bahn.

Fahren auf Sicht - Ein Sicherheitsrisiko?

Prinzipiell sei das ein normales Verfahren, sagt der Bahnberater Hans Leister. "Aber es ist unpraktisch. Besser wäre es, man hätte signalgeführte Lokomotiven, die an den liegen gebliebenen Zug heran geführt werden." Ein Sicherheitsrisiko sieht Hans Leister nicht.

"Ich kenne Beispiele aus dem Ausland, wo man sich rechtzeitig Gedanken gemacht hat, wie man einen Zug, der liegen geblieben ist, von der Strecke holt. Ohne allzu lange und allzu viel Streckensperrung zu verursachen. Es ist unpraktisch, was hier jetzt stattfindet."

Peter G. hingegen sieht das anders. Kürzere Abschnitte als Lokführer auf Sicht zu fahren sei nicht ungewöhnlich. Aber kilometerlang könne man sich nicht ausreichend konzentrieren. Die Sicherheitstechnik solle den Lokführer ja eigentlich unterstützen, das würde sie dann aber nicht mehr tun. "Der Sonderfall mit ausgeschalteter Sicherheitstechnik zu fahren, wird hier zum Regelfall." Da würde auch ein zweiter Lokführer nicht helfen. "Mit dem Ausschalten der Sicherheitstechnik, die sonst so hochgehalten wird, fällt die Sicherheit im Eisenbahnbetrieb zurück in die Dampflokzeit."

ETCS und die Zulassungen - Ein Vorbote auf Stuttgart 21

Sind diese Zulassungsprobleme auf der Neubaustrecke womöglich die Vorboten von weiteren Problemen, die im Rahmen von Stuttgart 21 noch kommen könnten? Hans Leister erklärt, man habe sich zu spät um die Systeme in den Fahrzeugen gekümmert. "Es ist zu hoffen, dass, wenn Stuttgart 21 fertig ist, eine bessere Lösung für die Abschlepplokomotiven gefunden ist". Denn wenn im Dezember 2025 der neue Tiefbahnhof in Stuttgart ans Netz gehen soll, wird das gesamte Eisenbahnnetz in Stuttgart nur noch mit ETCS ausgerüstet sein. Klassische Signalsysteme und die bisherigen Zugsicherungstechniken gibt es dann nicht mehr. Züge mit veralteten Systemen können dann den Stuttgarter Bahnhof schlicht nicht mehr anfahren. "Bis dahin müssen die Züge komplett ausgerüstet sein mit dem neuen System. Das ist vor allem im Regionalverkehr ein riesen Thema. Aktuell haben nur wenige Züge diese Ausrüstung", so Leister.

Züge werden umgerüstet oder ausgemustert

Auch die Bahn bestätigt, dass viele Züge von heute künftig nicht mehr in Stuttgart verkehren werden. "Die heutigen IC-Züge werden in den nächsten Jahren ausgemustert und sind daher nicht für eine ETCS-Umrüstung vorgesehen. Die Beschränkung des Netzzugangs zum neuen Stuttgarter Hauptbahnhof auf ETCS stellt indes keinen Mangel dar. Sie ist notwendige Voraussetzung für eine robuste und leistungsfähige Ausrüstung der Infrastruktur mit digitaler Technik." Auch beim Thema Dieselabschlepploks habe man bereits neue Lokomotiven mit ETCS-Zulassung bestellt, die allerdings erst 2026 ausgeliefert werden.

Auch das Land Baden-Württemberg beschäftigt das Thema. 150 neue Nahverkehrszüge hat das Verkehrsministerium bereits bestellt, die mit dem neuen ETCS ausgerüstet sein werden. Die sollen rechtzeitig zur Inbetriebnahme von Stuttgart 21 geliefert werden.

Schwierige Übergangszeit

"ETCS ist die Zukunft", bekräftigt auch Hans Leister. "Die Übergangszeit jetzt ist das schwierige bei ETCS. Vor allem, wenn es über viele Jahre geht. Das Bergen eines liegen gebliebenen Zuges ist nur ein Beispiel." Die große Herausforderung sei, dass in den nächsten Jahren ETCS vor allem in Teilgebieten eingerichtet wird und die Züge immer wieder zwischen den bisherigen Sicherheitssystemen und dem neuen ETCS hin und her wechseln müssen.

Digitaler Knoten Stuttgart

Im Rahmen des Großbauprojektes Stuttgart 21 haben sich die Projektpartner darauf geeinigt, neben der Neubaustrecke auch den neuen Bahnhof und sämtliche Zulauftunnel mit dem neuen Zugsicherungssystem ETCS auszustatten und auf die herkömmlichen Zugsicherungssysteme zu verzichten. Das soll eine höhere Taktung und dichtere Zugfolge, eine höhere Zuverlässigkeit und einen pünktlicheren Betriebsablauf gewährleisten.

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