20:29 Uhr: Auf eine kurze, freundliche Begrüßung folgt ein letzter prüfender Blick auf die Fahrgastliste. Und schon fährt der Nachtzug mit einem leisen Rattern raus in die Dunkelheit. Ziel: Venedig. Für Sanel Mehanovic beginnt damit der Arbeitstag. Oder besser: Die Arbeitsnacht. Denn für den Zugbegleiter fängt die Arbeit dann an, wenn andere sich so langsam der Nachtruhe widmen möchten. Kein Problem für den Bordsteward mit den kurzen, graubraunen Haaren. Ihm liege die Nachtarbeit: "Das ist alles eine Sache der Gewohnheit", verrät er.
Nachtzüge gibt es seit mehr als 170 Jahren
Nachtzüge haben eine lange Tradition. Bereits in den 1850er-Jahren rollten die ersten von ihnen durch Deutschland, das damals noch in zahlreiche Königreiche, Fürsten- und Herzogtümer aufgeteilt war. Erst 2016 hatte sich die Deutsche Bahn vom Nachtzuggeschäft verabschiedet. Es sei nicht mehr rentabel genug gewesen, erklärte die Bahn. Doch mit dem neuen Fahrplanwechsel, der im Dezember 2022 in Kraft getreten ist, fahren ab sofort wieder Nachtzüge der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) als Betreiber ab Stuttgart. Die staatliche Eisenbahngesellschaft ist Marktführer in dieser Nische des europäischen Schienenverkehrs.
Zugbegleiter Sanel Mehanovic ist schon seit fast acht Jahren im Auftrag der Firma Newrest mit den Nachtzügen der ÖBB unterwegs. Er checkt die Tickets, weist die Fahrgäste in ihre Abteile ein, kümmert sich um das Frühstück, macht Kontrollgänge, achtet auf die Hygiene in den sanitären Anlagen des Zuges - kurzum: Er ist die ganze Nacht für die Fahrgäste da und sorgt dafür, dass sie sich rundum wohl fühlen. Und dass sie so entspannt wie möglich ankommen, denn auf die Nachtruhe wird im Zug besonders Wert gelegt. Das bestätigt auch Sanel. Er steht in seinem Bordsteward-Abteil und geht nochmal die Fahrgastliste durch: "Wir sind dafür zuständig, dass die Nachtruhe eingehalten wird. Im Sitzwagen können Fahrgäste schon was trinken. In den Schlafwagen aber zahlen die Gäste dafür, dass sie ihre Ruhe haben."
Nicht nur Stuttgart - Venedig: Fahrten auch in andere europäische Städte
Die Strecke nach Venedig ist der Bordsteward selbst noch nicht allzu oft gefahren - zumindest nicht von Stuttgart aus. Denn diese Nachtzugstrecke gibt es erst seit wenigen Wochen. Wen die Sehnsucht nach der Sonne quält, kann von der Landeshauptstadt aus mit Halten in Göppingen und Ulm direkt in die italienische Lagunenstadt fahren. Bei einem Zwischenstopp in Salzburg werden Wagen abgekoppelt, mit denen Reisende in andere europäische Städte fahren können - wie etwa Budapest, Wien, Zagreb, Llubljana und saisonal auch nach Rijeka. Doch nicht nur Stuttgart gehört zum Nachtzugnetz. Über die Rheintalstrecke fahren Nachtzüge auch ab Freiburg, Karlsruhe und Mannheim in Richtung Norden nach Amsterdam, Hamburg, Berlin oder auch Prag.
Von den Zielen über das Team bis hin zu den Fahrgästen: Wenn er über seine Arbeit spricht, huscht Sanel Mehanovic ein kleines Lächeln über die Lippen. "Nachtzüge sind für mich eines der letzten Abenteuer, denn jede Fahrt ist anders“, sagt er und schaut wachsam den Gang des Schlafwagens hinunter. Besonders gefalle ihm, dass die Fahrgäste entspannter seien und er mit ihnen auch mal ins Gespräch komme. Besonders gern erinnert er sich an ein altes Ehepaar, das mit dem Nachtzug von Wien nach Mailand fuhr. "Sie waren beide 98 Jahre alt und seit über 60 Jahren verheiratet. Allein von der Jahresspanne her hatten sie ziemlich viel zu erzählen, was sie so alles erlebt haben", sagt er mit einem Schmunzeln.
Neue Züge soll es ab September geben
Ab Herbst 2023 wird es noch mehr Raum für Erlebniserzählungen von Reisenden geben. Denn im September sollen laut den ÖBB neue Nachtzüge auf die Schienen kommen. Moderner und mit mehr Plätzen lautet die Devise - damit möglichst viele Passagiere die Reise über Nacht genießen und dabei von der Karlsbrücke in Prag, den Grachten in Amsterdam oder dem Canale Grande in Venedig träumen können.
Eine helfende Hand für seine Fahrgäste und ein offenes Ohr für ihre Geschichten wird Sanel Mehanovic wohl noch eine ganze Weile lang im Nachtzug haben. Der "Zugbegleiter aus Leidenschaft" sagt von sich, er sei gekommen, um zu bleiben. "Jedenfalls bis zur Rente", grinst er. Die Zeit im Nachtzug ist wie im Flug vergangen - die Ankunft in Venedig steht nun kurz bevor. Sanel macht sich nach zwölf Stunden Fahrt bereit, weitere Fahrgäste freundlich zu begrüßen. Dann aber nicht mehr im Dunkeln, sondern bei strahlendem Morgenrot am Himmel.