SWR Aktuell: Was hast du gedacht, als du diesen Brief vom Bundespräsidialamt bekommen hast?
Serkan Eren: Ich habe zuerst einen Anruf bekommen vom Bundespräsidialamt, dass ich eingeladen werde zu einer Veranstaltung und wieso ich noch nicht geantwortet habe. Dann habe ich gesagt, "Ich bin im Ausland, ich war noch nicht am Briefkasten." Dann bin ich nach Hause gekommen und dachte "da war doch noch was". Und dann mache ich diesen Brief auf und da drin steht dann plötzlich, dass ich für das Bundesverdienstkreuz nominiert werde, was völliger Wahnsinn ist. Einfach völliger Wahnsinn. Die ein oder andere Träne musste ich mir schon wegdrücken.
Serkan Eren ist 39 Jahre alt. Ungewöhnlich jung, um die Ehrung des Bundesverdienstkreuzes zu erhalten, wie er selbst findet. Der Stuttgarter ist Gründer der Hilfsorganisation STELP, abgeleitet von "STuttgart hELPs". In insgesamt 15 Ländern unterhält die Organisation Hilfsprojekte, bei denen Serkan Eren regelmäßig selbst vor Ort ist.
SWR Aktuell: Wie oft bist du für deine Organisation im Ausland unterwegs?
Serkan Eren: Ich bin ungefähr die Hälfte meiner Zeit im Ausland, in Krisenregionen, je nachdem, wie die Situation vor Ort gerade ist. Das ist tatsächlich sehr fordernd, vor allem, weil es in Krisenregionen meist keine passende Infrastruktur gibt. Da schläfst du in der Türkei halt auch mal tagelang im Auto bei Minustemperaturen.
SWR Aktuell: Warum ist es dir wichtig, auch selbst vor Ort zu sein?
Serkan Eren: Das war's mir schon immer. Ich muss auch einfach wissen, für was ich so viel arbeite, wofür ich das alles tue. Ich möchte wissen, was wir verändern. Außerdem habe ich auch eine große Verpflichtung gegenüber den Spendern und Spenderinnen. Wir haben tatsächlich nicht nur die Großspenden von irgendwelchen Konzernen, wir haben auch die alleinerziehende Mutter, die uns am Ende des Monats ihre letzten 10 Euro in die Hand drückt. Ich möchte einfach wissen, dass das Geld genau dort ankommt, wo es geplant ist. Wir möchten das Geld nur in Ausnahmefällen aus der Hand geben.
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Wie bereitest du dich darauf vor, wenn du in eine Krisenregion gehst?
Serkan Eren: Das ist ganz unterschiedlich. Es kommt darauf an, was passiert ist, mit welcher Art von Katastrophe wir es zu tun haben. Ich habe verschiedene Schubladen zu Hause und der Inhalt dieser Schubladen ist zusammengestellt für verschiedene Krisen. Im Krieg beispielsweise brauchst du eine schusssichere Weste und einen Helm. Du brauchst Turning Tears zum Abbinden von abgetrennten Gliedmaßen, beispielsweise für schwere Verletzungen und einen Erste-Hilfe-Kasten.
Zuletzt war Eren bei einem Hilfseinsatz im Osten der Ukraine unterwegs, um Lebensmittel und Nahrung an die Menschen im direkten Kriegsgebiet zu verteilen. Von seinem Einsatz teilt Eren Aufnahmen auf Instagram. Darin ist auch erkennbar, wie brenzlig seine Einsätze werden können:
SWR Aktuell: Du begibst dich auch selbst in Gefahr, wenn du vor Ort bist, zum Beispiel in der Ukraine, wo Krieg herrscht. Wie gehst du mit dieser Gefahr um?
Serkan Eren: Ja klar, die Gefahr ist natürlich immer sehr präsent, vor allem in der Ukraine, aber auch zum Beispiel in Afghanistan oder Syrien. Da kann es immer sein, dass man entführt wird oder in einem Foltergefängnis landet. Das wäre so die größte Katastrophe. Aber hier muss ich auf das Verhältnis zu sprechen kommen. Die eigene Gefahr, die ich eingehe, steht in keinem Verhältnis zu dem, was wir mit unseren Einsätzen verändern. Zum Beispiel in der Ukraine, da besteht die Gefahr zu 10 bis 15 Prozent, dass, wenn du an der Frontlinie bist, du nicht mehr zurückkommst. Andererseits retten wir mit so einem Einsatz im besten Fall 20 bis 40 Menschen das Leben. Dann ist die Entscheidung eigentlich klar.
SWR Aktuell: Und wie ist das für deine Familie, wenn du bei gefährlichen Missionen unterwegs bist?
Serkan Eren: Super schwierig. Vor allem natürlich für meine Frau oder meine Schwester. Besonders, wenn ich mal irgendwo bin, wo ich zwei oder drei Tage keinen Empfang habe, sei es an der Ostfront in der Ukraine oder in Afghanistan bei den Taliban in den Bergen. In drei Tagen kann alles passieren. Dann sitzen sie natürlich auf heißen Kohlen zu Hause und haben es oft schwerer als ich, weil ich in dem Moment ja weiß, dass es mir gut geht, sie aber nicht.
SWR Aktuell: Warum machst du es trotzdem?
Serkan Eren: Weil wir Menschenleben entscheidend verändern und retten. Alles, was wir investieren, ist nichts im Vergleich dazu, was wir erreichen. Allein, was wir in den letzten sieben Jahren geschafft haben: Wir haben viele Frauen und Mädchen vor Massenvergewaltigungen gerettet, konnten Waisenhäuser evakuieren, wir haben so viele Menschen bei Erdbeben retten können. Wir versorgen über 2.000 Kinder im Jemen mit Mahlzeiten, die ansonsten heute ganz sicher tot wären.
Die Frage nach dem "Warum" ist für Serkan Eren eine besondere. Für den 39-Jährigen gab es einen ganz bestimmten Wendepunkt in seinem Leben, der alles verändert hat.
SWR Aktuell: An welchem Punkt in deinem Leben hast du dich dazu entschieden, das zu machen, was du jetzt tust? Du warst ja nicht immer Aktivist.
Serkan Eren: Ich versuche meine Geschichte mal kurz zu verpacken. Ich komme aus einfachen Verhältnissen, bin in der Wohnbausiedlung mit einem alleinerziehenden Vater und zwei Geschwistern aufgewachsen. Meine Kindheit war alles andere als schön. Irgendwann kam ich dann nach Stuttgart, habe als Personal Trainer gearbeitet und relativ schnell viel Geld verdient. Im Nachhinein muss ich sagen, habe ich da ein sehr egoistisches Leben geführt, es ging nur um mich, die nächste Party, den nächsten Urlaub. Dann hatte ich einen schweren Autounfall mit Nahtoderfahrung. Danach habe ich mich wieder an den kleinen Jungen erinnert, der ich mal war, und mir ganz viele Sinnfragen gestellt. Ich dachte, das allein macht mich zum besseren Menschen. Erst sieben Jahre später habe ich so richtig realisiert, dass es nichts bringt, "nur" bessere Gedanken und diesen Mindset-Wechsel zu haben. Das macht mich nicht besser als Andere.
SWR Aktuell: Und dann?
Serkan Eren: Dann habe ich mich spontan entschlossen, einen Sachspendentransport zu organisieren und bin mit einem guten Freund zusammen über den Balkan gefahren. Und das war dann der ausschlaggebende Punkt. Das hat mich verändert. Meiner Familie Decken zu geben, hungernden Menschen Essen hinzustellen. Das hat viel mit mir gemacht.
2015 legte Serkan Eren gemeinsam mit seinem Freund Steffen Schuldis mit der Hilfsaktion "Balkan Route Stuttgart" den Grundstein für den heutigen Verein STELP e. V. Seit über sieben Jahren ist er mit seinen Partnern und Partnerinnen weltweit vor Ort unterwegs. Was er auf seinen Einsätzen erlebt, geht auch an Eren nicht spurlos vorbei.
SWR Aktuell: Was passiert, wenn du von einem Einsatz heimkommst und realisierst, wo du gerade warst, was du erlebt hast?
Serkan Eren: Ich habe eigentlich jede Nacht Albträume. Dann wache ich ganz oft schweißgebadet auf. Es ist nicht wirklich eine Angstsituation, sondern eher die Bilder, die mich einholen, vor allem wenn es um Kinder geht. Zum Beispiel haben mich die Erlebnisse nach dem Erdbeben in der Türkei sehr mitgenommen. In den zwei Wochen vor Ort haben wir unzählige Menschen leider auch tot bergen müssen. Aber auch hier muss ich sagen: Was sind schon diese Bilder gegen das, was wir erreichen.
SWR Aktuell: Wie schaffst du es zu Hause mit diesen Bildern umzugehen?
Serkan Eren: Ich habe Rituale. Wenn ich zum Beispiel nachts schweißgebadet mit hohem Puls aufwache, gehe ich auf den Balkon, atme drei Mal tief durch, trinke ein Glas Wasser und komme so ein bisschen runter und kann weiterschlafen. Ich habe auch schon versucht mir professionelle Hilfe zu holen, das hat leider nicht geklappt. Ich kann mich Fremden gegenüber schwer öffnen. Ich bin aber dran, etwas Neues auszuprobieren, was mir helfen könnte.
SWR Aktuell: Hast du das Gefühl du bist abgestumpft durch all die schlimmen Dinge, die du siehst?
Serkan Eren: Ein bisschen. Eine Leiche, die ich irgendwo entdecke, lässt mich immer noch nicht kalt. Kaltschnäuzig ist vielleicht das falsche Wort, aber es ist schon so: Wenn ich eine Nachricht bekomme, dass irgendwo etwas passiert ist, beispielsweise ein Waldbrand bei dem 50 Personen gestorben sind, dann ist das mittlerweile für mich keine sehr sehr große Zahl mehr, wenn man es ganz nüchtern und analytisch betrachtet. Da habe ich gemerkt, dass kleine Katastrophen, die für die Leute immer noch wahnsinnig schlimm sind, mich nicht mehr so tief berühren. Das ärgert mich auch. Aber ich glaube, für unsere Effizienz ist es ganz wichtig, das richtig einzuordnen.
SWR Aktuell: Um noch einmal auf das Bundesverdienstkreuz zurückzukommen: Bist du stolz darauf, was ihr geschafft habt?
Serkan Eren: Genau, du sagst es: Was wir geschaffen haben. Ich werde ganz oft gefragt: "Bist du stolz darauf, was du geschafft hast?" Ne, ich bin nur ein Zahnrädchen in diesem kompletten System. Ich bin natürlich der Gründer und habe diesem Schneeball STELP den ersten Schubs gegeben. Jetzt ist er eine riesengroße Kugel und dafür waren unzählige Menschen verantwortlich. Darauf bin ich stolz, dass ich diese Menschen zusammengeführt habe.