Fast 80 Jahre ist es her, dass im Stuttgarter Westen tausende Juden lebten, direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Es waren sogenannte Displaced Persons (abgekürzt DPs). Menschen, die den Holocaust überlebt haben, darunter Überlebende aus den KZ, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und auch Kriegsgefangene. Auf das Schicksal der DPs in der Reinsburgstraße hat jetzt eine Künstlerinitiative aufmerksam gemacht und unter anderem Interessierten einen historischen Spaziergang durch diese Straße angeboten. Begleitet hat diesen Spaziergang die Historikerin Io Josefine Geib. Sie ist selbst in der Reinsburgstraße groß geworden, hat Geschichte studiert und über die DPs in Stuttgart geforscht.
Viele der DPs, die in Stuttgart Station machten, kamen aus Polen, konnten aber nicht mehr zurück in ihre Heimat. Polen gehörte mittlerweile zur Sowjetunion. DPs wären dort zum Beispiel der Kollaboration verdächtigt worden, obwohl sie als Zwangsarbeiter deportiert worden waren, wie Io Josefine Geib auf dem Stadtspaziergang erzählt.
Diese Menschen suchten eine neue Heimat, und viele hofften, nach Palästina ausreisen zu können. Doch das dauerte, es gab noch keinen Staat Israel zu der Zeit. Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger mussten ihre Wohnung deshalb räumen, bekamen dafür andere Wohnungen von der Stadt gestellt. Willkommen waren die Juden nicht. Die Machtverhältnisse drehten sich kurzerhand um. Nachdem die Nazis die Juden jahrelang verfolgt hatten, kamen diese jetzt in die Stadt. Es wurde Wohnraum für sie beschlagnahmt und sie prägten ein ganzes Stadtviertel mit ihrer jüdischen Kultur.
Das DP-Camp in der Reinsburgstrasse war eines von vielen
Camps für Displaced Persons wurden damals von den Alliierten in ganz Europa eingerichtet. Die DPs in Stuttgart verwalteten sich selbst, hatten ein jüdisches Komitee aufgebaut, das zuständig war für Bereiche wie Arbeit, Wohnen und Bildung. Sie richteten ein großes Kulturzentrum ein mit Bibliothek und Schule. Im Kulturzentrum konnten junge Menschen eine Ausbildung machen, zum Beispiel Handwerksberufe erlernen. Es gab damals in der Reinsburgstraße eine provisorische Synagoge, einen Tanzclub und auch Sportvereine.
Das Durchschnittsalter lag bei 25 Jahren
Es fanden Hochzeiten statt, Kinder wurden geboren. 1946 hatten jüdische DP-Camps die höchste Geburtenrate der Welt, erzählt Io Josefine Geib weiter. Die Bedeutung Kinder zu bekommen war groß, nachdem die Nazis ganze jüdische Generationen ausgelöscht hatten. Es ging darum sich zu sozialisieren. Und das Ziel war letzten Endes alles zu organisieren, um Deutschland zu verlassen und eine neue Heimat zu finden.
Im Schnitt lebten 1.400 DPs in dieser Zeit im Stuttgarter Westen
Viele Häuser waren in der Reinsburgstraße nach Ende des Krieges noch erhalten. Trotzdem war es eng in Stuttgart, Wohnraum war knapp. Polnische Juden und Deutsche lebten in der Zeit Haustür an Haustür. Antisemitismus flammte auf. Die amerikanischen Besatzer sorgten vor und richteten eine DP-Polizei ein. 30 jüdische Polizisten sicherten das DP-Camp nach außen ab und sorgten innen für Sicherheit. Ihr Job war, dass es friedlich blieb.
Bei einer Razzia starb ein jüdischer KZ-Überlebender
Am 29.3.1946 führte die deutsche Polizei eine Razzia in der Reinsburgstraße durch. Der passive Widerstand der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sorgte für Aggression und Festnahmen von Seiten der deutschen Polizei, berichtet die Historikerin Io Josefine Geib.
Die Gewalt eskalierte, als ein deutscher Polizist den jüdischen Bewohner Samuel Danziger in den Kopf schoß und er dabei starb. Samuel Danziger hatte gerade erst Auschwitz überlebt und seine Frau und Kinder wiedergefunden. Bei der Razzia fand die deutsche Polizei übrigens nichts außer Hühnereier und Herrenunterwäsche, wie Io Josefine Geib zum Schluss noch anmerkt. Der Tod von Samuel Danziger wurde nie aufgeklärt.