Drei Personen sitzen im Wartebereich der Bundesagentur für Arbeit hinter einem Aufsteller mit dem Logo der Agentur

Bundestagsabgeordnete aus BW kritisieren CDU-Vorschlag

Streit ums Bürgergeld: Wie viele Arbeitsverweigerer gibt es überhaupt?

Stand
Autor/in
Simone Steffan

Wer Arbeit verweigert, dem soll das Bürgergeld ganz gestrichen werden, fordert CDU-Bundesgeneralsekretär Linnemann. Bundestagsabgeordnete aus BW halten den Vorschlag für falsch.

Dietmar Decker hilft fünf Mal die Woche bei den Tafeln der Diakonie im Kreis Esslingen und zwar ehrenamtlich, also ohne Lohn. 23 Jahre hat er als Lagerist gearbeitet, mit Anfang 40 wurde er arbeitslos. Seitdem findet der heute 58-Jährige laut eigener Aussage keinen Job mehr - auch wegen einer angeborenen Gehbehinderung, mutmaßt er. Decker hat Zusatzqualifizierungen gemacht und sich umschulen lassen, ohne Erfolg. Er lebt von 563 Euro Bürgergeld im Monat. Er wolle arbeiten, sei aber nicht gewollt.

Die sehen mich reinlaufen beim Bewerbungsgespräch – da kann ich hinten gleich wieder rauslaufen.

Tanja Herbrik von der Diakonie Württemberg kennt ähnliche Fälle. Sie betreut Arbeitslosen-Projekte. Der überwiegende Teil der Menschen, die Bürgergeld beziehen, würde sehr gerne arbeiten, sagt Herbrik dem SWR. Die Betroffenen wollten unabhängig sein vom Jobcenter und ihr Geld selber verdienen. Wenn Arbeitslose Jobs ablehnten, sagt sie, seien das meist Härtefälle, die schwer krank seien oder Angehörige pflegen müssten.

BA: Im vergangenen Jahr gab es rund 16.000 Totalverweigerer

Rund vier Millionen erwerbsfähige Bürgerinnen und Bürger beziehen in Deutschland aktuell nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) Bürgergeld. In Baden-Württemberg betrifft das laut dem Landesarbeitministerium rund 370.000 Menschen. Die Gründe, warum sie die staatliche Leistung beziehen, seien vielfältig, schreibt die BA dem SWR auf Anfrage. Bürgergeld erhalten Menschen demnach vor allem, wenn sie krank sind, sie andere betreuen müssen, eine Ausbildung machen oder einen Niedriglohnjob haben.

  • 1,7 Millionen Personen könnten laut der BA zwar arbeiten. Bei vielen gebe es aber "Vermittlungshemmnisse": Sie hätten keine Ausbildung, seien länger arbeitslos, älter als 55 Jahre oder schwerbehindert.
  • Bei rund 235.000 Menschen gibt es keine statistisch erfassten Gründe. Die BA verweist hier auf Probleme wie eine Überschuldung, gesundheitliche Einschränkungen oder fehlende Kinderbetreuung, vor allem bei Alleinerziehenden.
  • Die Zahl der sogenannten Totalverweigerer, die im vergangenen Jahr alle Jobangebote oder Weiterbildungen abgelehnt haben, gibt die BA mit rund 16.000 an.
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CDU-Vorschlag erntet viel Kritik von Bundestagsabgeordneten aus BW

Dass aktuell über Kürzungen und Streichungen des Bürgergeldes diskutiert wird, geht auf einen Vorstoß des Generalsekretärs der Bundes-CDU, Carsten Linnemann, zurück. Linnemann hatte gesagt, die Statistik lege nahe, dass mehr als 100.000 Menschen grundsätzlich nicht bereit seien, eine Arbeit anzunehmen. Er fordert in diesen Fällen, das Bürgergeld komplett zu streichen.

Massive Kritik kommt von baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten von SPD, Grünen und FDP, die sich im zuständigen Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales mit dem Bürgergeld befasst haben. Für den SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Rosemann aus Tübingen hat Linnemann die Zahl "schlicht erfunden". Rosemann, der auch arbeitsmarktpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion ist, sagte dem SWR, die Union habe der Einführung des Bürgergeldes im Bundestag zugestimmt. Hilfsbedürftige jetzt pauschal als arbeitsunwillig darzustellen, sei blanker Populismus.

Auch für die Arbeitsmarktexpertin der Grünen, Beate Müller-Gemmeke, ist die Zahl 100.000 "ein unlösbares Rätsel". Die Bundestagsabgeordnete aus Reutlingen verwies dem SWR gegenüber auf die 16.000 Menschen im Jahr 2023, die sanktioniert worden seien. Das sei nicht einmal ein Prozent der 1,7 Millionen arbeitslosen Menschen, die Bürgergeld bekämen, so Müller-Gemmeke.

Ampel-Koalition plant schärfere Sanktionen

Um Bürgergeldbezieher wieder schneller in Arbeit zu bringen, plant die Bundesregierung schärfere Regeln. So sollen Bürgergeldbezieher in Zukunft zum Beispiel einen längeren Weg zur Arbeit in Kauf nehmen müssen. Wer einen zumutbaren Job ohne triftigen Grund ablehnt, dem soll das Bürgergeld um 30 Prozent für drei Monate gekürzt werden. Außerdem soll es Sanktionen geben, wenn ein Bürgergeldbezieher schwarz arbeitet. Damit schärfere Regeln in Kraft treten, muss der Bundestag zustimmen.

Bereits beschlossen ist, dass Jobcenter Menschen, die sich beharrlich weigern, überhaupt einen Job anzunehmen, das Bürgergeld für maximal zwei Monate streichen können.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Pascal Kobler aus Reutlingen begrüßt die schärferen Sanktionen, die die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP plant. Der Arbeitsmarktexperte sagte dem SWR, dass das Existenzminimum nicht dauerhaft verweigert werden dürfe, sei Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts und das wisse auch die Union.

CDU-geführtes Landesarbeitsministerium fordert radikale Änderungen

Der baden-württembergischen Arbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) reichen die geplanten Reformen nicht aus. Sie fordert von der Bundesregierung radikale Änderungen beim Bürgergeld. Die CDU-Politikerin sagte, die staatliche Leistung erweise sich zunehmend als Flop. Sie sei zu teuer, zu bürokratisch, zu aufwendig und bringe keinen Erfolg.

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Staatliche Leistungen zu kürzen ist allerdings schwierig. SWR-Rechtsexperte Frank Bräutigam erklärt, das Bundesverfassungsgericht habe für Kürzungen enge Grenzen gesetzt, weil es um das Existenzminimum gehe. "Eine komplette Streichung bei totaler Arbeitsverweigerung ist zwar unter strengen Voraussetzungen möglich, muss aber die absolute Ausnahme bleiben", fasst der Rechtsexperte zusammen.

Im Tafelladen im Kreis Esslingen kann Dietmar Decker soziale Kontakte knüpfen und "etwas Sinnvolles" tun. Er müsse sich außerdem von seinem Bekannten nicht anhören, dass er den ganzen Tag nichts arbeite, sagt Decker. Seine Chancen, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen, schwinden von Jahr zu Jahr.  

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