Rund sechs Millionen Menschen in Deutschland gelten laut Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung als überschuldet. Und das sind nur diejenigen, die sich bisher bei der Schuldnerberatung vorgestellt haben. Die Hemmschwelle, ein solches Beratungsangebot anzunehmen, ist hoch. Am Mittwoch (3.5.) beginnt in Freiburg die Jahrestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung. Auch Reiner Saleth von der Zentralen Schuldnerberatung Stuttgart ist dabei. SWR Aktuell-Moderator Andreas Herrler hat mit ihm gesprochen:
SWR Aktuell: Können Sie den Bedarf nach Beratung in Ihrer Beratungsstelle decken, oder ertrinken Sie im Moment in Arbeit?
Reiner Saleth: Bei uns ist es so - und das betrifft auch viele andere Stellen -, dass wir schon seit Jahren den Bedarf nicht decken können und hinterherhinken.
SWR Aktuell: Wie lange dauert es denn im Schnitt, bis Beratungswillige einen Termin bekommen?
Saleth: In Stuttgart bieten wir viermal in der Woche jeweils einen halben Tag Sprechzeiten an, wo die Leute anrufen können. Und dann prüfen wir zunächst einmal bei diesen Gesprächen, ob es sogenannte existenzsichernde Maßnahmen braucht. Das gilt vor allem, wenn der Wohnraum gefährdet ist, weil die Miete nicht bezahlt ist, oder Energiesperren drohen. Es kann auch sein, dass der Arbeitsplatz bedroht ist, weil der Arbeitgeber von Pfändungen belastet ist. Da gibt es eigentlich keine Wartezeiten. Bei existenzsichernden Maßnahmen helfen wir sofort und machen auch, wenn es notwendig ist, Termine.
SWR Aktuell: Und wenn es nicht existenzsichernd ist - wie lange dauert es dann?
Saleth: Das nennen wir dann eine weiterführende Beratung, wo es letztendlich darum geht, die Verhältnisse zu stabilisieren, eine langfristige Perspektive zu erarbeiten und dann auch die Schulden zu regulieren. Da warten die Menschen, die wir jetzt in die Beratung aufnehmen, im Moment elf Monate.
SWR Aktuell: Sie haben schon gesagt, manchmal drohen auch Energiesperren. Spielen die gestiegenen Energie- und auch Lebensmittelpreise eine Rolle bei den beratungswilligen Menschen?
Saleth: Ja. Bei den Anfragen haben wir es im Moment oft mit hohen Nebenkostenabrechnungen zu tun, wo man in irgendeiner Form aktiv werden muss. Und die Lebensmittelpreise wirken sich natürlich auf die Haushaltskassen aus, die schrumpfen schneller, und das kann schon dazu führen, dass man andere Zahlungsverpflichtungen nicht mehr so ohne weiteres erfüllen kann. Das ist eher ein mittelfristiges bis langfristiges Problem. Wir hoffen, dass es keine so immensen Auswirkungen haben wird. Aber das ist deutlich spürbar.
SWR Aktuell: Wenn man jetzt doch gerade noch genug Geld zum Überleben hat, aber eben doch immense Schulden - noch nicht sofort einen Termin bekommt bei den Schuldnerberatungen - was raten Sie diesen Menschen, die in so eine Lage kommen?
Saleth: Wenn es sich tatsächlich um eine Überschuldungssituation handelt, dann kommen Sie von alleine nicht mehr raus. Da brauchen Sie professionelle Hilfe. Da raten wir vor allem, dass man den Kopf nicht hängen lässt, das ist ganz wichtig. Man ist in dieser Situation sehr empfänglich für irgendwelche Versprechungen, und da muss man aufpassen, wenn man im Internet nach Hilfe sucht. Da gibt es viele unseriöse Anbieter, da warnen wir davor, das zu nutzen. Ansonsten hilft natürlich ein Kassensturz. Also man müsste die Einnahmen und Ausgaben gegeneinander aufstellen und das Ergebnis ansehen. Wenn man in einer Beziehung oder in einer Familie lebt, ist es sehr hilfreich, dann auch wirklich darüber zu reden. Das macht man ungern, vor allem, wenn das Geld knapp ist. Aber es ist extrem wichtig.
SWR Aktuell: Von daher ist eine solche Beratung sehr wichtig. Sie haben schon gesagt, dass Sie schon seit Jahren mit viel zu wenig Personal zu kämpfen haben. Wie könnte diesem Mangel an Personal Abhilfe geschaffen werden?
Saleth: Die Schuldnerberatung wird trotzdem - Sie haben ja gesagt, wie viele Betroffene es gibt - noch immer ein bisschen stiefmütterlich behandelt in der Politik. Es ist im Gesetz nicht eindeutig geregelt, wie das finanziert werden soll. In Stuttgart zum Beispiel ersetzen die Träger ungefähr 300.000 Euro Defizit im Jahr. Das ist natürlich kein Dauerzustand, und es ist ein strukturelles Problem. Das heißt, jeder Ausbau würde diesen Betrag erhöhen, und das geht gar nicht mehr. Insofern ist der Gesetzgeber gefragt, und natürlich ist die Überschuldungssituation in der Gesetzgebung oder in der Politik überhaupt zu berücksichtigen. Bei den Corona-Hilfen haben wir zum Beispiel nicht an den Pfändungsschutz gedacht, und dann hat das Geld diejenigen Menschen teilweise nicht erreicht, die es besonders nötig gehabt hätten.