Ein Vater streichelt seinen achteinhalb Monate alten Sohn, der mit einem Atemwegsinfekt auf der Intensivstation einer Kinderklinik liegt und non-invasiv beatmet wird (Archivbild).

Ausnahmezustand in Kinderkliniken

RS-Virus: BW-Kliniken behandeln deutlich mehr Babys als vor Corona

Stand

Das RS-Virus kann für kleine Kinder zur Gefahr werden. Ein Grund für den drastischen Anstieg an Klinikbehandlungen bei Säuglingen könnten die Corona-Schutzmaßnahmen gewesen sein.

Die hohe Zahl an kranken kleinen Kindern mit schweren Atemwegserkrankungen hat die Kliniken im Winter an die Grenzen der Belastung geführt. Lange Wartezeiten in den Notaufnahmen, keine freien Betten - viele baden-württembergische Kinderkliniken sprachen von einem Ausnahmezustand. Nun zeigt sich: Im vergangenen Winter ist die Zahl der Neugeborenen und Säuglinge, die wegen des sogenannten RS-Virus in einer Klinik im Südwesten behandelt werden mussten, laut einer Studie drastisch gestiegen.

Ein Grund: Durch Schulschließungen und Kontaktverbote während der Corona-Pandemie hatten sich vorletzten Winter deutlich weniger Kinder mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) infiziert - das wurde dann in der jetzt zu Ende gehenden kalten Jahreszeit auf- und nachgeholt.

Nicht selten steckt das RSV dahinter, wenn Kinder stark husten, schnell atmen und Atemnot bekommen. Am RSV kann man zwar in jedem Alter erkranken, aber vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern ist der Erreger bedeutsam. Folge können einfache Atemwegsinfektionen sein, aber auch schwere Verläufe bis hin zum Tod sind möglich.

Säuglinge können indirekt von Nachhol-Effekt betroffen sein

Auch wenn diese besonders kleinen Kinder und Säuglinge zu jung sind, um die meisten Kontaktbeschränkungen selbst erlebt zu haben - von dem Nachhol-Effekt könnten sie trotzdem indirekt betroffen sein, erklärt Jakob Maske vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte.

So könne es mehr Kinder geben, die sich aufgrund der Maßnahmen im Alter von zwei bis drei Jahren erstmals mit RSV infizieren. "Diese Kinder haben häufig inzwischen schon kleine Geschwister, die dann natürlich häufiger angesteckt werden.", so Maske. Allerdings müsse diese Frage weiter wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Immunologe: Nestschutz möglicherweise vermindert

Möglich sei außerdem ein verminderter Nestschutz, erklärt Johannes Liese, Professor für pädiatrische Infektiologie und Immunologie an der Universität Würzburg. Denn während der Schwangerschaft werden Antikörper von der Mutter auf das Kind übertragen, so ist das Neugeborene in den ersten Monaten geschützt.

Da die Mütter aber während der Pandemie weniger Kontakt zu RS-Viren hatten, hätten sie in dieser Zeit auch weniger entsprechende Antikörper gebildet, so Liese. Das könne zusätzlich eine Rolle spielen, bei der Frage, weshalb sich vermehrt Kinder im ersten Lebenshalbjahr angesteckt haben.

Zu Risikopatienten zählt das RKI zum Beispiel Frühgeborene und Kinder mit Lungen-Vorerkrankungen, aber auch generell Menschen mit Immunschwäche oder unterdrücktem Immunsystem.

Baden-Württemberg

Überlastete Praxen, leere Klassenzimmer Virus-Erkrankungen in BW: Das rät ein Kinderarzt besorgten Eltern

Gruppen- und Klassenräume leeren sich. Wartezimmer füllen sich. Die derzeitige Krankheitswelle erwischt besonders Kinder, aber ab wann ist der Praxis-Besuch eigentlich ein Muss?

Nach einer Analyse im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit lag die Zahl der unter Einjährigen mit RSV im letzten Viertel des vergangenen Jahres in Baden-Württemberg dreimal höher als im selben Zeitraum 2018 - also vor der Corona-Pandemie.

"Hochgerechnet auf alle in Baden-Württemberg lebenden Kinder mussten im Winter 2022 rund 2.100 Babys im Krankenhaus behandelt werden."

Zwischen Oktober und Dezember seien mehr Kinder mit RSV in Krankenhäusern behandelt worden als in der gesamten Vor-Corona-Saison 2018/19. Der Anteil auf den Intensivstationen stieg laut DAK um 134 Prozent.

Stationäre Fälle haben sich verdreifacht

Mediziner sprechen von erheblichen Nachholeffekten nach der Corona-Pandemie. Denn während der Covid-19-Pandemie in Baden-Württemberg seien nahezu keine Kinder mit RSV-Infektionen im Krankenhaus behandelt worden. Nach der Corona-Pandemie habe sich der Höhepunkt der RSV-Welle zeitlich nach vorne verschoben, teilte die DAK mit. Und es seien merklich mehr Kinder stationär versorgt worden. In der Saison 2021/22 habe sich der Anteil der baden-württembergischen Babys, die mit RSV im Krankenhaus behandelt wurden, im Vergleich zur Saison 2018/19 verdreifacht.

Doch nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern gab es im vergangenen Winter eine starke RSV-Welle - unter anderem in Schweden. Während der Corona-Pandemie galten hier nicht so strenge Kontaktbeschränkungen wie in Deutschland. Trotzdem: "Die Vorsichtsmaßnahmen hatten vermutlich auch in Schweden einen deutlichen Effekt auf die Weiterverbreitung von respiratorischen Viruserkrankungen", so Johannes Liese von der Universität Würzburg. Außerdem sei die Zirkulation der RS-Viren weltweit während der Pandemie zurückgegangen. Beides habe zur Folge, dass sich im vergangenen Winter auch in Schweden viele Kinder zum ersten Mal mit RSV infiziert haben.

Stuttgarter Mediziner fordert mehr Geld für Kinderkrankenhäuser

Auch Jan Steffen Jürgensen, Vorstand des Klinikums Stuttgart, spricht von einer "ausgefallenen Infektsaison". Zudem hätten sich mehrere Wellen kritisch überlagert. "An den schweren Verläufen vieler Neugeborener und Säuglinge wurde das schmerzhaft deutlich", sagte der Stuttgarter Mediziner.

Jürgensen forderte vor allem bessere Rahmenbedingungen für die Betreuung der kranken Kinder: "Die Zahl der Betten in Kinderkrankenhäusern ist seit Jahren rückläufig", sagte er. In den vergangenen 30 Jahren sei die Anzahl um etwa 40 Prozent gesunken, die verbliebenen Kliniken seien oft sehr stark belastet. "Kindernotaufnahmen arbeiten am Limit und schon bei leichten Steigerungen der Patienten wird die Überlastung immer wieder gefährlich", warnte Jürgensen. Allein in der Kindernotaufnahme des Klinikums Stuttgart seien im vergangenen Jahr mehr als 50.000 Kinder akut versorgt worden.

Freiburg

Viele Kinder in Südbaden an Grippe oder RS erkrankt Medikamente für Kinder gehen aus - Ärzte und Apotheker in Sorge

Fieber- und Hustensäfte sind vergriffen, auch andere Arzneien kaum lieferbar - Fachleute sehen die Versorgung kranker Kinder in Gefahr. Auch in Südbaden macht sich Frust breit.

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR Fernsehen BW

DAK-Landeschef: "Besorgniserregende Entwicklung"

Ähnlich sieht das der Landeschef der DAK-Gesundheit, Siegfried Euerle. "Unsere Analyse zeigt eine besorgniserregende Entwicklung", sagte er. Personalmangel dürfe die Versorgung nicht gefährden.

Für die DAK-Sonderanalyse untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bundesweit Daten von rund 786.000 Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahren. Analysiert wurden die Jahre 2017 bis 2022.

Die DAK-Gesundheit ist nach eigenen Angaben mit 5,5 Millionen Versicherten die drittgrößte Krankenkasse Deutschlands. Insgesamt sind bei der Krankenkasse in Baden-Württemberg rund 630.000 Menschen versichert.

Mehr zum RS-Virus

Baden-Baden

Belegte Betten und Verlegungen RS-Virus: Angespannte Situation in Kinderkliniken in Baden-Baden, Pforzheim und Karlsruhe

Die Situation in Kinderkliniken ist angespannt. Immer mehr Kinder mit Atemwegserkrankungen müssen in Karlsruhe, Baden-Baden und Pforzheim stationär aufgenommen werden, vor allem mit RS-Virus-Infektionen.

SWR4 BW am Nachmittag SWR4 Baden-Württemberg

Tübingen

Pflegekräfte fehlen RS-Virus, Grippe, Corona: Kinderklinik in Reutlingen am Limit

Die Kinderklinik in Reutlingen läuft seit Wochen am Limit. Auch die Lage an der Tübinger Kinderklinik ist angespannt. Teils müssen Pflegekräfte anderer Stationen aushelfen.

SWR4 BW Aktuell am Mittag SWR4 Baden-Württemberg

Ulm

Ärztlicher Direktor der Kinderklinik Ulm im Interview "Die Situation ist in der Tat dramatisch"

Die Kinderkliniken in BW haben in einem offenen Brief vor "katastrophalen Konsequenzen" gewarnt. Klaus-Michael Debatin von der Kinderklinik Ulm schildert im Interview, wie die Situation dort ist.

SWR4 BW aus dem Studio Ulm SWR4 BW aus dem Studio Ulm

Stand
Autor/in
SWR

Mehr von SWR Aktuell Baden-Württemberg

Baden-Württemberg

Die wichtigsten News direkt aufs Handy SWR Aktuell Baden-Württemberg ist jetzt auch auf WhatsApp

Der WhatsApp-Kanal von SWR Aktuell bietet die wichtigsten Nachrichten aus Baden-Württemberg, kompakt und abwechslungsreich. So funktioniert er - und so können Sie ihn abonnieren.

Baden-Württemberg

SWR Aktuell - der Morgen in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren: Newsletter mit BW-Nachrichten am Morgen!

Sie wollen morgens auf dem neuesten Stand sein? Dann abonnieren Sie "SWR Aktuell - der Morgen in BW". Die News aus Ihrem Bundesland ganz bequem in Ihrem Mailpostfach.