Im Leonhardsviertel in Stuttgart verkaufen Frauen sexuelle Leistungen gegen Geld. Leuchtschilder in grellen Farben sollen die Kunden in die Laufhäuser locken. Aber es gibt auch einen Straßenstrich und von Zuhältern angemietete Wohnungen. Prostitution gehört hier seit vielen Jahrzehnten zum Straßenbild dazu - genauso wie hippe Bars und kleine Cafés, von denen im Viertel immer mehr aufmachen. Ein normales Viertel also? Für Streetworkerin Veronika Schürle ist es das nicht. "Prostitution ist kein Job, das ist Gewalt an Frauen", sagt sie bei "Zur Sache Baden-Württemberg".
Deshalb spricht Schürle sich für ein Sexkaufverbot nach dem sogenannten Nordischen Modell aus. Es stammt aus Schweden. Freier werden dort für den Kauf von Sex bestraft, Bordelle müssen schließen. Sexarbeiterinnen und Prostituierte werden hingegen nicht bestraft. Ziel ist es, Ausbeutung und Menschenhandel einzudämmen. Auch in der Politik werden momentan die Stimmen wieder lauter, die sich für das Nordische Modell aussprechen. Schürle hofft, dass dadurch die "gewaltige Nachfrage" reduziert werde.
Abtreibungen laut Schürle an der Tagesordnung
Nur eine Straße neben der legalen Laufhausmeile im Leonhardsviertel arbeiten laut Streetworkerin Schürle Zwangsprostituierte unter erbärmlichen Bedingungen. Viele von ihnen stammen aus Osteuropa. "Sie dürfen sich keinen Tag Urlaub leisten, auch wenn sie krank sind oder ihre Periode haben." Manche arbeiteten schwanger - noch bis zum achten Monat, also kurz vor der Entbindung.
Eine Ecke weiter beginnt der Straßenstrich. Dort bieten Prostituierte Sex auf öffentlichen Toiletten an, erzählt Schürle. Manche verlangen dafür nur zehn Euro, zeigt eine Internetrecherche. Die gebürtige Bulgarin Schürle versucht mit ihrem Verein "Esther Ministries" seit 13 Jahren, den Frauen aus der Zwangsprostitution zu helfen.
Zuhälter schlägt Frau mit Stange
Eine von Schürles Schützlingen ist eine Frau, die wir hier Julia nennen. Sie arbeitete 12 Jahre lang immer wieder als Prostituierte in Deutschland – freiwillig, so sagt sie. Doch vor wenigen Wochen rastet ihr Zuhälter aus, bricht ihr den Arm. "Dieses Mal war es eine Katastrophe", erzählt Julia. "Er hat mich mit einer Stange geschlagen." Sie sei daraufhin zwölf Tage im Krankenhaus gewesen, wurde zwei Mal operiert. Nun reicht es Julia. Sie fährt zurück nach Bulgarien.
Breymaier ist für das Nordische Modell
Für die baden-württembergische SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier ist Sexarbeit eine Frage der Menschenrechte. Manche Frauen machten diese Arbeit freiwillig, sagt Breymaier. Ihrer Meinung nach rechtfertigt das aber nicht das Leid der vielen anderen Frauen, "die gedemütigt, geschlagen, zerstört werden". Die Mehrheit der Frauen im Stuttgarter Leonhardsviertel sei nicht krankenversichert und stamme aus Osteuropa, Südosteuropa, Afrika oder zunehmend auch aus China. "Das sind doch nicht selbstbestimmte Frauen", sagt die SPD-Politikerin mit Wahlkreis Aalen-Heidenheim. Sie setzt sich deshalb schon länger für das Nordische Modell ein.
Gegen das Modell ist der Stuttgarter Laufhausbetreiber John Heer, der auch dem Verband der Laufhäuser angehört. Heer ist der Ansicht, dass sich die Situation für Sexarbeiterinnen und Prostituierte durch das Nordische Modell dramatisch verschlechtern würde. "Natürlich wird es gefährlicher", sagt Heer.
Deutsche Aidshilfe und Diakonie gegen Sexkaufverbot
Organisationen wie die Deutsche Aidshilfe, die Diakonie Deutschland oder der Deutsche Frauenrat sprechen sich ebenfalls gegen das Nordische Modell aus. Sie argumentieren, Sexarbeiterinnen und Prostituierte könnten so leichter Opfer von Gewalttaten werden, sich mit Krankheiten zu infizieren und die Kontaktaufnahme mit den Betroffenen werde erschwert.
Auch die 32-Jährige Jay hält nichts von einem Sexkaufverbot. Sie arbeitet neben ihrem Bürojob seit drei Jahren als Escort. Das heißt, sie trifft sich mit Männern und schläft mit ihnen für Geld - arbeitet aber ohne Zuhälter oder Agentur und verlangt höhere Preise. "Ich habe den Eindruck, dass die meisten Leute, die ein Sexkaufverbot fordern, tatsächlich eigentlich mit Sexarbeit an sich ein Problem haben", sagt Jay. Ihr ist aber auch bewusst, dass es vielen Prostituierten schlechter geht als ihr.
Laufhausbetreiber: Frauen arbeiten selbstbestimmt
Heer sorgt in seinem Laufhaus im Leonhardsviertel nach eigenen Angaben mit Überwachungskameras und Security für Sicherheit. Den Frauen dort gehe es gut, erzählt er. Sie machten ihren Job freiwillig und selbstbestimmt, er biete nur die Infrastruktur. "Die Frauen bestimmen ihren Arbeitsalltag, die Kunden, die Preise, den Service. All das sind Rahmenbedingungen, die der Gesetzgeber so vorgibt", sagt Heer.
Für ein Zimmer in Heers Laufhaus bezahlen die Prostituierten 160 Euro am Tag. Sie arbeiten und leben dort. Nur wenige von ihnen sprechen fließend Deutsch. Lara aus Rumänien arbeitet seit elf Jahren als Prostituierte. Am Anfang sei das schwierig gewesen, aber langsam würden die Kunden sie kennen und auch immer wieder zurückkommen, berichtet sie, während Heer danebensteht. Violetta kommt aus Ungarn und lebt seit fünf Jahren in Heers Laufhaus. Sie sagt, in ihrem Heimatland sei es schwierig, Arbeit zu finden. Hier könne sie Geld verdienen. Ihre Familie wisse aber nicht, was sie in Deutschland mache, so Violetta weiter.
Prostituierte werden im Internet bewertet
Im Internet werden die sexuellen Dienste von Prostituierten in sogenannten Freier-Foren bewertet. Die Aussagen dort wirken wahrscheinlich auf viele Menschen verstörend. So heißt es über die Rumänin Lara: "Preislich ging es zu wie bei Hyundai. In den 50 Euro für 30 Minuten war immer eine reichhaltige Ausstattung enthalten." Manchen scheinen die Preise nicht günstig genug zu sein. Wenn eine Frau etwa sagt, dass sie Schmerzen habe oder den Sex kurzhält, wird sie von den Freiern schnell als Betrügerin bezeichnet. So schreibt ein Nutzer: "Eine Entschuldigung würde mir nicht reichen, mein Geld und Zeitaufwand sind weg und das vieler anderer Mitstecher auch."
Eine Frau gibt in dem Forum offen zu, wie schlimm die Arbeitsbedingungen sind: "Ich bin mir bewusst, dass der Service nicht so war, wie man sich das in der Regel vorstellt", schreibt sie. "Aber ich bitte um Verständnis, dass ich bei absoluter Fettleibigkeit, Schweißgeruch, faulenden Zähnen einfach entsetzt war."
Mehrere Personen in BW verurteilt
Meist sind es osteuropäische Banden oder Rockergruppen, die Frauen in illegalen Bordellen oder angemieteten Wohnungen zur Prostitution zwingen. In den vergangenen Wochen gelang es der Polizei in Baden-Württemberg zwei Banden zu fassen. In Heilbronn wurden mehrere Personen verurteilt, in Konstanz läuft gerade noch ein Gerichtsprozess.
Die Erfahrung von Wolfgang Fink vom Landeskriminalamt (LKA) zeigt, dass die Gerichtsprozesse in Sachen Menschenhandel und Zuhälterei vor allem davon abhängen, wie die Prostituierten aussagen. "Das sind Frauen, die aufgrund ihrer Biografie schwere Demütigungen oder eine schwere Kindheit hinter sich haben, sodass das Aussageverhalten natürlich auch von Angst geprägt ist", sagt Fink, der der beim LKA für den Bereich Menschenhandel zuständig ist. Aussagen würden oft zurückgezogen.
LKA-Ermittler: Prozesse sind "Spitze des Eisbergs"
Fink ist sich sicher, dass die Fälle, die vor Gericht kommen, nur die Spitze des Eisbergs seien. Er spricht sich für ein generelles Prostitutionsverbot oder zumindest eine höhere Altersgrenze aus, um junge Frauen zu schützen. Anders könne man am Status Quo wenig ändern, sagt der Ermittler.
Viele bezeichnen Deutschland wegen seiner liberalen Gesetze als das "Bordell Europas". Für Fink keine Übertreibung: "Das ist tatsächlich so. Wir sind in Europa das Land, in dem die Prostitution am weitesten verbreitet ist." Er schätzt aber auch, dass 10.000 bis 30.000 Prostituierte ihre Dienste nicht freiwillig anbieten – allein in Baden-Württemberg.