Der Atomausstieg zeige, dass die deutsche Politik auch nach großen Konflikten in der Lage sei, sich zusammenzuraufen, sagt Frank Uekötter, Umwelt- und Wissenschaftshistoriker an der Universität Birmingham. Im Interview mit dem SWR spricht er über die Bedeutung der Anti-Atomkraft-Bewegung, über die Gründung der Grünen und über eine Atomwirtschaft, die unter Druck geraten war.
SWR Aktuell: Herr Uekötter, Sie forschen und unterrichten an der Universität Birmingham: Wie schaut die alte Atommacht Großbritannien auf den deutschen Ausstieg?
Frank Uekötter: Der Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland wird vor allem im Kontext des Ukraine-Kriegs wahrgenommen und in Zeiten von Energieknappheit. Da wirkt es seltsam, dass ausgerechnet jetzt die Stilllegung der Atomkraftwerke kommt. Ansonsten ist das in Großbritannien kein großes Thema. Zivile Atomkraft läuft hier seit Jahrzehnten unter dem Radar. Es gibt zwar eine Anti-Atomkraft-Bewegung - die richtet sich aber fast vollständig gegen den militärischen Teil der Atomenergie, also die britischen Atombomben. Politisch gesehen gibt es in Großbritannien allerdings eine gewisse Sehnsucht nach Deutschland und nach einem rationalen Diskurs in der Politik. Ich glaube, dass der Atomausstieg nicht das schlechteste Beispiel dafür ist.
SWR Aktuell: Wieso?
Uekötter: Es ist der Endpunkt eines nuklearen Abenteuers, das bis in die 50er-Jahre reicht. Und es ist ein seit langem angekündigtes Enddatum: seit der Bundestag nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima mit breiter Mehrheit beschlossen hat, dass es einen geregelten Ausstieg geben soll und einen festen Fahrplan dafür.
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SWR Aktuell: Sie haben ein Buch über die Kernenergie in Deutschland geschrieben mit dem Titel: Atomdemokratie. Was hat nun dazu geführt, dass wir aus der Atomkraft aussteigen, während andere Nationen das nicht auf der Agenda haben?
Uekötter: Dass die Bundesrepublik auf einen Atomausstieg zusteuert, steht schon seit den frühen 90er-Jahren fest. Damals wurde diskutiert, ob man in der untergehenden DDR und in den neuen Bundesländern neue Atomkraftwerke bauen soll. Es gab ostdeutsche Atomkraftwerke, die im Zuge der Wende abgeschaltet wurden.
Der Ausstieg ist auch eine logische Folge: Man investiert nicht in neue Atomkraftwerke und die bestehenden sind irgendwann zu alt, um weiterbetrieben zu werden. Wir sehen in vielen Nachbarländern, dass das ein normaler Kurs ist. Europäische Atomkraftwerke wurden in aller Regel in den 70er und 80er-Jahren gebaut. Die werden alle immer älter.
Nachbarländer wie Frankreich und Belgien improvisieren nun und schieben die vereinbarten Termine für die Stilllegung immer wieder raus. Baden-Württemberg hat das betroffen, als das französosche AKW Fessenheim stillgelegt werden sollte. Der französische Präsident hat seinen Beschluss mehrmals revidiert.
Deshalb ist der Lauf der Dinge in der Bundesrepublik eine Besonderheit. Wir wissen schon seit über 20 Jahren, dass das Atomgesetz ein Verbot für Neubauten vorsieht. Dass dieses Atomzeitalter endet, ist also seit längerem eine Gewissheit in der Energiewirtschaft.
SWR Aktuell: Dass die Politik seit den 90er-Jahren so eingeschwenkt ist, hat auch mit der Stärke der Anti-Atom-Bewegung zu tun. In den 70er, 80er und 90er-Jahren ist sie in Deutschland stark gewesen. Wie hat sie die politische Kultur beeinflusst?
Uekötter: Die Menschen in den 70er-Jahren haben gemerkt, dass man zur Atomkraft auch viel grundsätzlichere Fragen diskutieren kann. Da ging es um die Macht von großen Konzernen und die Frage, wer eigentlich berechtigt ist, Entscheidungen im Bereich Energie zu treffen. Dann geht es natürlich um Infrastrukturprojekte allgemein und wie solche Projekte kommuniziert werden.
SWR Aktuell: Heute stellen die Grünen mit Robert Habeck den Wirtschafts- und Klimaschutzminister und mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Wie entscheidend war es, dass sich aus der Anti-Atom-Bewegung heraus eine politische Partei gegründet hat, die nun an der Macht ist?
Uekötter: Mit Protest kann man umgehen. Das war für die Energiekonzerne bereits in den 70er-Jahren kein Problem. Aber eine grüne Partei, die Zugang hat zu den Akten und all den kleinen und großen schmutzigen Geheimnissen - diese Vorstellung ängstigte die Atomwirtschaft schon in den 80er-Jahren. Das hat ein Umdenken ausgelöst. Man kam zu dem Schluss, dass man einen sicheren Rahmen für den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke brauchte. An diesem Punkt hat ein Kompromiss angesetzt: Bei der Energiewirtschaft gab es ein Interesse daran, einen festen Fahrplan zu bekommen. Es war sozusagen eine Art Deal.
SWR Aktuell: Die Grünen waren ein Sammelbecken für viele unterschiedliche Strömungen. Wie wichtig war das Anti-Atom-Thema für die Partei?
Uekötter: Man muss das vielleicht nochmal klarstellen: Gerade die frühen Grünen in den frühen 80er-Jahren waren eine ziemliche Chaostruppe. Es war wirklich hilfreich, dass es mit diesem einen Anliegen "Atomkraft" eine Sache gab, wo alle an einem Strang gezogen haben.
Gerade in den ersten turbulenten Anfangsjahren der Grünen war es unheimlich wichtig, dass man sich zusammenfinden konnte, auch zusammen protestieren konnte - dass man etwas hatte, was dazu beitrug, die frühe grüne Bewegung in eine Partei zu verwandeln.
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SWR Aktuell: Wie haben die Regierungsbeteiligungen die Grünen verändert?
Uekötter: Die Bedeutung des Atomthemas für die Grünen nahm schon in den 90er-Jahren ab. Die Einstellung gegen Atomkraft war kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Auch in der SPD ist die Gegnerschaft zur Atomenergie stark und für CDU, CSU und FDP ist die Atomkraft seit den 80er-Jahren nicht mehr Thema Nummer eins.
Joschka Fischer hat zur Rolle der Grünen mal den klugen Satz gesagt: Die Veränderung des Menschen durch das Amt geht schneller als die Veränderung des Amts durch den Menschen. Als die Grünen in Regierungsämter kamen, mussten sie realisieren, dass die sofortige Abschaltung von allen Atomkraftwerken rechtlich nur mit milliardenschweren Entschädigungen an die Stromkonzerne zu haben war. Aus dieser Situation heraus entstand die Suche nach dem Kompromiss für den Fahrplan zum Ausstieg.
SWR Aktuell: Im Nachhinein sieht es alles sehr einfach aus: Protest, Bürgerinitiativen, Verhandlungen, Ausstieg.
Uekötter: Es ist nicht selbstverständlich, dass diese Bewegung so lange durchgehalten hat. Wir leben in Deutschland mit der Selbstverständlichkeit, dass es eine lebendige zivilgesellschaftliche Bewegung gibt. In anderen Teilen der Welt ist das nicht so.
Eine Bewegung braucht Leute, die die Details eines Atomkraftwerks verstehen, aber nicht dort beschäftigt sind und von Vorgesetzten unter Druck gesetzt werden können. Die Geschichte der Atomkraft ist ein Beweis dafür, welches Ausmaß von ziviler Gegenexpertise sich entwickeln kann. Es gab verdammt viele Menschen, die sich in die Details einer Notkühlvorrichtung vertieften. Die bereit waren, dieses Wissen in nervigen, langwierigen Verhandlungen anzubringen. Sie sorgten dafür, dass der Apparat der Atomwirtschaft in Deutschland immer wusste: Wir stehen unter Beobachtung. Wir können nichts unter den Teppich kehren, weil es da draußen Leute gibt, die sich auskennen.