29 antisemitische Vorfälle passieren aktuell rechnerisch jeden Tag in Deutschland. Das geht aus einem neuen Bericht hervor, den die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) am Dienstag veröffentlicht hat. Fälle von extremer Gewalt, Angriffe, Sachbeschädigungen und Bedrohungen sowie verletzendes Verhalten stehen hinter den Zahlen.
Einen so offenen Judenhass, habe es in Deutschland seit 1945 vielleicht noch nicht gegeben, sagt Marina Chernivsky im SWR-Interview. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin der Beratungsstelle OFEK, die von Antisemitismus Betroffenen Beratung bietet. Mit SWR Aktuell hat Marina Chernivsky darüber gesprochen, was Jüdinnen und Juden in Deutschland und Baden-Württemberg gerade erleben.
SWR Aktuell: Wie sieht ihr Alltag gerade aus?
Marina Chernivsky: In den letzten Jahren haben wir viele Krisen erlebt - die Pandemie mit ihrer antisemitischen Mobilisierung, den verheerenden Krieg in der Ukraine. Aber seit dem Massaker am 7. Oktober hat sich unser Leben grundlegend und unwiderruflich verändert. Was viele nicht wissen: Die enthemmte antisemitische und misogyne Gewalt gegen israelische Zivilist:innen steht im historischen Zusammenhang mit früheren Anschlägen, auch wenn das letzte Massaker nie da gewesene Ausmaße angenommen hat. Die Auslöschung jüdischen Lebens ist das proklamierte Ziel vieler terroristischer Gruppierungen. Die gezielte Anwendung der Gewalt ist also ein Mittel zum Zweck. Sie richtet sich gegen Jüdinnen und Juden in Israel und adressiert die jüdische Gemeinschaft weltweit. Das Schweigen, die Desinformation, die antisemitischen Reflexe verschärfen diesen hochgradig traumatischen Effekt. Viele berichten von gestörtem Zeitempfinden, bedrückter Stimmung, Anzeichen einer Retraumatisierung und Antizipation weiterer Gewalt. Die letzten Wochen verdichten sich buchstäblich zu einem unübersichtlichen Komplex. Einige berichten, neben sich zu stehen, dem Alltag nicht mehr wie gewohnt nachgehen zu können. Es ist nicht überraschend, dass der Terror und Krieg sich auf die Psyche, auf den Körper und das soziale Leben massiv auswirken.
Wie hat sich die Arbeit von OFEK seit dem 7. Oktober verändert?
Chernivsky: OFEK ist eine beratende Institution. Wenige Stunden nach dem Überfall haben wir unsere Arbeit in einen Krisenmodus überführen müssen. Trotz eingeschränkter Ressourcen war es uns wichtig, Krisenformate wie die erweiterte Hotline und psychologische Erste Hilfe anzubieten. Ohne diese Art von Krisenmodus hätten wir das rapide steigende Beratungsaufkommen nicht bewältigen können. Wir wissen um den perfiden Zusammenhang zwischen den Eskalationen im Nahen Osten und dem Ausagieren von Antisemitismus in Deutschland. 2021 gab es einen rapiden Anstieg antisemitischer Gewalttaten im Zuge einer militärischen Operation in Israel/Gaza. Wir haben uns anscheinend daran gewöhnt, dass die kollektive Schuldzuweisung sowie Übergriffe auf Juden im Zuge von Krisen, Konflikten oder Kämpfen zur Normalität gehört. Für uns bedeutet es zwangsläufig, alle Ressourcen zu mobilisieren, um dem Bedarf an Beratung abzudecken. In den ersten vier Wochen nach dem Massaker haben wir so viele Beratungsanfragen aufgenommen und bearbeitet wie in keinem Jahr seit der Gründung von OFEK 2017.
Antisemitismus zeigt sich in seinen radikalen Formen exponiert wie lange nicht mehr. Dabei hat sich auch die Qualität der Vorfälle deutlich verändert. Es geht um gewaltförmige Übergriffe, um ideologisch verdichtete Feindschaft und Ablehnung von Jüdinnen und Juden sowie Israel in allen gesellschaftlichen Gruppen. Es ist nicht nur diese blanke Gewalt auf Straßen, sondern ihre Missbilligung. Diese offenen Formen von Antisemitismus haben Jüdinnen und Juden hierzulande, glaube ich, in dieser Verdichtung, in dieser Intensität nicht oft - vielleicht auch niemals erlebt nach 1945. Vor dem Hintergrund unserer Beratungskomplexe beobachten wir, dass die Gewalt enthemmter wird, nicht mehr versteckt, auf Umwegen, sondern unverdeckt in körperlicher und psychischer Form ausagiert wird. Was mich und andere aber gerade wirklich beschäftigt, ist der immense Anstieg der Beratungsanfragen.
Bitte erklären Sie das etwas genauer.
Chernivsky: Unsere Beratungsstatistik könnte als eine Art Ethnografie, ein Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit geordnet werden. Menschen, die sich bei uns melden, haben eine Hemmschwelle zu überwinden. Es ist nicht leicht, auch nicht selbstverständlich, sich an eine Beratungsinstitution zu wenden. Das heißt, wir sprechen hier von einer Spitze des Eisbergs. Die vielen Anfragen spiegeln zwar das schwindende Sicherheitsempfinden und die hohe Frequenz an antisemitischen Situationen wider - aber das ist nur ein Ausschnitt. Man muss sich bewusst machen: Menschen, die diese Barriere überwinden, sich mit einem Fall an uns zu wenden, da muss der Leidensdruck schon groß sein, damit man so etwas überhaupt macht.
Von wie vielen Anfragen sprechen wir hier?
Chernivsky: Bis Donnerstag haben wir seit dem terroristischen Angriff am 7. Oktober 491 Beratungsanfragen in der bundesweiten Hotline empfangen und bearbeitet. In Baden-Württemberg waren es rund 43 (Stand 23.11.) Beratungsfälle. Allerdings kann nicht ein jeder Fall einem Bundesland zugerechnet werden - einige Ratsuchende möchten anonym bleiben. Außerdem zählen wir bei dieser Statistik Gruppenangebote und Anzahl der psychologischen Gespräche oder Follow-Ups nicht mit. Diese Daten zeigen, dass Menschen wütend, besorgt, verunsichert sind. Aber sie zeigen gleichzeitig, dass sie sich organisieren und bestärken wollen. Nicht nur durch das, was am 7.10. geschehen ist, sondern maßgeblich durch das, was danach kam, sind viele tief betroffen: Das Erleben von Gewalt, von Übergriffen, aber auch von sozialer Kälte bis hin zu Verharmlosung und Relativierung des Massakers. Aber natürlich auch die Wirkung des Krieges und der vielen Bilder aus Israel und Gaza stellen ein hohes traumatisches Potential dar.
Wir haben über die Zahlen gesprochen. Wovon berichten Ihnen Antisemitismus-Betroffene konkret in der Beratung?
Chernivsky: Wir haben es hier mit Fällen an Hochschulen, Schulen, Kunsteinrichtungen, Spielplätzen oder im Wohnumfeld zu tun. Und in jedem dieser sozialen Bereiche können wir eine ganz andere Form des Ausagierens von Antisemitismus beobachten. Während wir es an Hochschulen mit antisemitischen Rundschreiben und Positionspapieren zu tun haben, die jüdisch-israelische Stimmen ausschließen, oder auf israelfeindliche Motive zurückgreifen, sprechen wir an Schulen maßgeblich von verbalen wie körperlich ausagierten Aggressionen. An öffentlichen Orten sprechen wir von Spielplätzen, wo jüdische Eltern mit ihren Kleinkindern nicht mehr sicher sind, von Sachbeschädigungen, verbalen Übergriffen bis hin zur Androhung von Gewalt. Häuser und Postkästen werden mit antisemitischen Botschaften markiert oder in der Nachbarschaft die Mesusa abgerissen. (Anmerkung der Redaktion: Ein kleiner Zylinder, oft am Türrahmen angebracht, dem im Judentum schützende Symbolik zukommt.)
Die Bandbreite ist groß. Zugleich haben wir es mit einer Diskrepanz zu tun: Was die Nicht-Betroffenen sehen und erleben, ist überhaupt nicht das, was die Betroffenen sehen und erleben. Mit dieser Asymmetrie werden wir umgehen müssen. Denn das, was Menschen jetzt akut brauchen würden, ist die Anteilnahme, die Solidarität, aber auch die klare Einordnung und Verurteilung des Massenmords an Jüdinnen und Juden am 7. Oktober.
Was können Sie in einer Beratung tun, um zu helfen?
Chernivsky: Das ist sehr unterschiedlich. Stellen Sie sich vor, Sie sind selbst von Diskriminierung betroffen. Und das wiederholt sich immer wieder. Was würden Sie machen, was würden Sie von anderen erwarten, wo würden Sie hingehen? Antisemitismus ist ein Diskriminierungs- und Gewaltverhältnis. Jeder Fall ist anders, wird anders erlebt und bewältigt. Gleichwohl gibt es viele typisierte Erscheinungsformen. Letztlich schwindet das Urvertrauen in die Welt; die Überzeugung, dass es wieder einen sicheren Raum gibt. Das sehen wir auch bei den Nachfahren der Shoah (Anmerkung der Redaktion: Hebräische Bezeichung für den Holocaust - die Ermordung von mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus); eine Erschütterung der Grundsicherheitsüberzeugungen, die nicht nur vom Erleben der Verfolgung entstanden sind, sondern auch durch das schweigende, relativierende Umfeld. Jetzt kommt es auch noch von jeder Ecke: rechtsextremer, israelbezogener Antisemitismus, aus den radikalen linken wie auch aus den radikal-islamistischen Gruppierungen. Das perfide daran ist, dass Jüdinnen und Juden heute mit all diesen Formen rechnen müssen. Dass Antisemitismus in irgendeiner Form mitten im Leben aufpoppt.
Wenn der 7. Oktober relativiert, Leid aufgewogen wird, dann haben wir ein Problem auf mehreren Ebenen. Das hat nicht nur mit der ausgefallenen Anteilnahme zu tun. Es gibt Verwirrung, ideologische Verblendung, Schwierigkeit bei der Einordnung. Wir haben hier mit diesem fragilen, brüchigen Wissen über Antisemitismus zu tun und mit einer kollektiven Unfähigkeit, sich dazu ins Verhältnis zu setzen. Wir alle hier sind nicht unbeteiligt - die hiesige deutsche Gesellschaft ist beteiligt. Jeder für sich, aber auch institutionell und gesellschaftlich tragen wir dazu bei, dass Antisemitismus aufrechterhalten und reproduziert wird. Deswegen gibt es nicht nur die Betroffenen, über die wir sprechen müssen, sondern auch die Beteiligten, die Verstrickten, die Fragenden, die Nicht-Wissenden, die Nicht-Reagierenden.
Sie haben Schulen erwähnt, wo der Beratungsbedarf seit dem 7. Oktober ebenfalls stark gestiegen ist. Sie waren seit 2017 an einer Studie beteiligt, die sich mit Antisemitismus an Schulen in Baden-Württemberg beschäftigt. Sind die Schulen im Land gerüstet für die verschärfte Situation durch den neuen Krieg in Nahost?
Chernivsky: Dass es nach dem 7. Oktober so viel Bedarf gibt, verweist darauf, dass die Strukturen noch nicht hinreichend ausgebaut sind. Schulen sind nicht vorbereitet; sie haben aber auch wichtige Themen lange umschifft. Wir bilden seit über 15 Jahren Lehrkräfte weiter- und fort. Sie sind offen und nehmen die Beratung an; die Situation wird sich aber erst ändern, wenn diese systematisch erfolgt. Gleichwohl können wir Schulen nicht die ganze Verantwortung übertragen. Medien, Politik, Familien, alle tragen ihren Teil dazu und müssten sich hinterfragen. Ich würde außerdem sagen, dass der pädagogische Gedanke mehr Raum einnimmt, als der Gedanke, Betroffene zu schützen und auf Vorfälle angemessen zu reagieren. Beides ist aber wichtig, sowohl Prävention als auch Intervention.
Mit den Erkenntnissen aus ihrer Studie: Was könnte an Schulen helfen, um besser mit Antisemitismus umzugehen?
Chernivsky: Aus den Interviews mit Betroffenen wird zum Beispiel deutlich, wie sich Antisemitismus in Bildungssettings manifestiert. Die meisten antisemitischen Vorfälle an Schulen haben mit antisemitischer Besonderung und Exotisierung zu tun, mit Nicht-Beachtung, von antisemitisch aufgeladener Sprache, Handlungen und Gewaltvorfällen. Es zeichnet sich ab, dass Lehrkräfte unsicher sind in ihrem Handeln gegen Antisemitismus. Im Umgang der Schulen mit Antisemitismus werden Distanz, Passivität und Unentschlossenheit von Lehrkräften und Schulleitungen als problematisch sichtbar. Die Vorfallschilderungen von jungen jüdischen Erwachsenen zeigen die Bandbreite antisemitischer Situationen im schulischen Kontext. Diese sind nicht auf einzelne Situationen im Raum Schule beschränkt, sondern wirken fallübergreifend über den Schulkontext hinaus. In ihren Schilderungen leiten Lehrkräfte Antisemitismus jedoch maßgeblich von Vorfällen ab, während strukturelle Dimensionen des Antisemitismus dethematisiert werden.
Wir brauchen hier eine systematische Schulung, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften, von Schulsozialarbeiterinnen. Im Umgang mit Krisen und jetzt auch beim Thema Nahostkonflikt zeichnet sich aber ab, dass wir die Unsicherheit nicht mit rein wissensvermittelnden Formaten auflösen können. Wir sollten auf dialogische Formate setzen, damit auch Lehrkräfte eine Selbsterfahrung durchlaufen können und ihre Arbeit kritisch diskutieren und weiterdenken können.