Auch im auslaufenden Jahr 2022 sind deutlich mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten als in den Jahren zuvor. Das hat eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter größeren Kommunen in Baden-Württemberg (Stichtag 15. Dezember) ergeben. Tausende kehrten der Kirche den Rücken. Nicht allen Standesämtern werden Gründe bekannt. Diejenigen, die es wissen, sagen: finanzielle Gründe und sexueller Missbrauch.
Besonders Stuttgart ist von Austritten betroffen
Sehr hoch ist der Rückzug von Gläubigen aus den Kirchen in Stuttgart. Bis Mitte Dezember gingen 6.334 Mitglieder (3.331 katholisch, 3.003 evangelisch), im Jahr 2021 waren es 3.856 (2.033 katholisch, 1.823 evangelisch). In Konstanz kehrten bis Mitte des Jahres 1.416 Mitglieder den Kirchen den Rücken, im vergangenen Jahr waren es 1.205. Eine Aufschlüsselung war nach Auskunft eines Sprechers nicht möglich.
Auch Austritte in Karlsruhe - wegen Kirchenskandalen und finanzieller Situation
Zuwächse an Austritten verzeichneten auch die Stadt Karlsruhe und die Ortsverwaltung Durlach, wie ein Sprecher mitteilte. Im laufenden Jahr traten bis Mitte Dezember 3.479 Menschen (1.495 katholisch, 1.874 evangelisch) aus der Kirche aus, im vergangenen Jahr waren es 2.887. Auch hier wurden finanzielle Gründe und die Kirchenskandale nach Auskunft eines Sprechers als Gründe genannt.
In Tübingen zogen sich nach Angaben einer Sprecherin bis Mitte Dezember 1.407 Gläubige zurück (748 katholisch, 650 evangelisch). Die Zahlen für das vergangene Jahr: 1.148 (611 katholisch und 526 evangelisch). Die restlichen Zahlen verteilen sich auf Austritte anderer Konfessionen. Heidelberg lieferte keine Aufschlüsselung nach Konfession und meldete bis Mitte Dezember 1.984 Austritte (2021: 1.729).
In Mannheim kündigten zum Stichtag 30. November 3.468 Menschen ihre Mitgliedschaft in den beiden großen Kirchen. Im Jahr 2021 waren es 3.366 gewesen, das Jahr davor 1.860. Eine Unterteilung in katholisch und evangelisch war nach Auskunft eines Sprechers nicht möglich.
Hohenloher Dekan: Weniger Menschen suchen Zuflucht und Trost bei Kirche
Der Hohenloher Dekan und katholische Pfarrer in Mulfingen (Hohenlohekreis) beobachtet, dass immer weniger Menschen sich mit ihren Nöten an die Kirche wenden. Das liege auch an den Skandalen.
Kirche werde "kleiner und demütiger"
In ganz Deutschland ist zu beobachten, dass seit Jahresbeginn deutlich mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten sind als in den Jahren davor. Der Religionspädagoge Ulrich Riegel, der eine viel beachtete Studie über Kirchenaustritte im Bistum Essen leitete, rechnete schon Ende Februar mit einem neuen Austrittsrekord in diesem Jahr.
Als gesellschaftlicher Faktor werde die Kirche "kleiner und demütiger", sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, dem "Focus" in der vergangenen Woche. Sie stecke in einer "tiefen Glaubwürdigkeitskrise", was sie zum Großteil selbst verschuldet habe - etwa durch Skandale im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern und jungen Menschen.
Studie: Ein Viertel der Kirchenmitglieder denkt über Austritt nach
Zuvor hatte eine Studie der Bertelsmann Stiftung ergeben, dass laut Umfrage noch viele weitere Menschen mit dem Gedanken spielen, der Institution den Rücken zu kehren. 24 Prozent der Befragten ziehen einen Kirchenaustritt in Erwägung, 20 Prozent nennen ihn wahrscheinlich. Ein Drittel schätzt sich als nicht religiös ein, 2013 lag dieser Wert noch bei 23 Prozent.
Nach den Gründen für ihren Kirchenaustritt hatte der SWR im September Menschen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz befragt. Kirchenskandale wurden als Hauptursache angegeben: Über 80 Prozent der gerade Ausgetretenen nannten die Missbrauchsfälle als Auslöser.