In Neckarsulm (Kreis Heilbronn) ist es gelungen, die kinderärztliche Versorgung ohne Unterbrechung sicherzustellen. Durch enge Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung und Ärzteschaft konnte die alte Kinderarztpraxis zum Jahresende schließen und die neue Praxis nahtlos zum Jahresbeginn ihren Betrieb aufnehmen. Damit ist die medizinische Versorgung von rund 4.700 Kindern in der Stadt gesichert. Die Praxis kann dem Ansturm kaum standhalten. Verschiedene Lösungsansätze könnten langfristig zu mehr Kinderarztstellen führen.
Aus Syrien nach Neckarsulm
Kinderärztin Rima Nakkoul ist vor acht Jahren vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen. Sie hat ihr Medizinstudium in Syrien absolviert und auch ihre Weiterbildung als Kinderärztin dort gemacht. Am Anfang sei es für sie schwer gewesen, die deutsche Sprache zu lernen, sich mit einem neuen medizinischen System und der Bürokratie auseinanderzusetzen und sich beruflich zu integrieren. "Es war ein langer Prozess", erzählt sie, aber auch eine große Chance. Sie kenne viele Kollegen in Syrien, die auch gerne in Deutschland als Arzt oder Ärztin arbeiten würden.
Großer Ansturm auf neue Kinderarztpraxis
In die neue Kinderarztpraxis kämen mehr neue kleine Patientinnen und Patienten, als sie überhaupt aufnehmen können, berichtet Nakkoul. In der Umgebung hätten zwei Kinderarztpraxen geschlossen. "Viele Kinder bleiben hier ohne Kinderarzt", denn zu viele Kinderärzte gingen zurzeit in Rente, so Nakkoul weiter. In der Praxis werden aktuell nur Kinder aus Neckarsulm und aus Heilbronn aufgenommen, die in Heilbronn keinen Kinderarzt finden. Eltern könnten mit ihren Kindern auch nicht einfach zum Allgemeinmediziner gehen, da die Pflichtuntersuchungen nur Kinderärzte durchführen dürfen.
Nakkoul selbst arbeitet in Teilzeit. Sie hat zwei Kinder und muss sie nachmittags betreuen. Gerne würde sie in Zukunft auch in Vollzeit arbeiten. Sie übernimmt in Heilbronn auch Bereitschaftsdienste. Häufig erlebt sie, dass Eltern mit ihren Kindern über 20 Kilometer zum Bereitschaftsdienst nach Heilbronn fahren, weil sie keinen Termin bei einem Kinderarzt in ihrem Heimatort bekommen.
Lieber angestellt als selbstständig
Drei neue Kinderärztinnen sind jetzt in der Hausarztpraxis von Tobias Neuwirth angestellt. Die Kinderarztpraxis hat der Mediziner im bestehenden Ärztehaus am Bahnhofsplatz eingerichtet. "Viele junge Kollegen möchten heutzutage nicht mehr selbstständig sein, sondern sie möchten einfach in Anstellung arbeiten und die Voraussetzung haben wir geschaffen", sagt Tobias Neuwirth.
Die Stadtverwaltung hat die Praxis bei dem Vorhaben unterstützt. Sie wurde aktiv, als klar wurde, dass die bisherige Kinderarztpraxis in Neckarsulm aus Altersgründen schließen wird, ohne einen Nachfolger zu haben. Die Diskussion kam auf, ob es überhaupt die Aufgabe einer Kommune ist, zu solchen Rahmenbedingungen beizutragen. "Per se eigentlich nicht, aber wir sehen ja, was im Moment passiert im Gesundheitsmarkt", sagt Steffen Hertwig (SPD), Oberbürgermeister von Neckarsulm. Mit einer monatlichen Finanzspritze unterstützt die Stadt die neue Praxis.
Kinderarztverband schlägt Alarm: "Das ist erst der Anfang"
Der Mangel an Kinderärzten werde sich in den kommenden Jahren noch zuspitzen. "Das ist erst der Anfang", sagt Till Reckert, Sprecher des Landesverbands der Kinderärzte Baden-Württemberg. Es gebe schlicht und ergreifend zu wenig Weiterbildungsplätze für den größeren Bedarf. Nach Angaben des Sozialministeriums ist der Bedarf gestiegen, da es unter anderem mehr Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gibt als früher. Außerdem gebe es bei Kindern deutlich mehr chronische Erkrankungen. Dazu kommt, dass viele Kinderärzte bald in Rente gehen.
Kinderarztmangel auch Thema bei Familienberaterin
Familienberaterin und Ergotherapeutin Linda Reidies aus Heilbronn ist häufig mit Eltern konfrontiert, die Schwierigkeiten haben, einen Termin beim Kinderarzt zu bekommen. Sie empfiehlt dann, sich an die Kassenärztliche Vereinigung zu wenden, die bei der Arztsuche hilft. Dennoch müssten die Eltern teilweise weite Wege in Kauf nehmen, so Reidies. Der zugewiesene Mediziner sei dann auch nur für spezielle Leistungen zuständig, wie die sogenannte U-Untersuchung, die verpflichtend ist. Bei einem nächsten Termin müssen viele Eltern wieder zu einer anderen Praxis. Durch den häufigen Arztwechsel könne kein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. Gerade für junge Eltern sei das sehr frustrierend, denn: "Der Kinderarzt ist quasi nach der Hebamme die erste Anlaufstelle", sagt Reidies.
Kinderarztmangel ist größter Facharztmangel im Land
In Baden-Württemberg arbeiten rund 1.000 Kinderärztinnen und Kinderärzte, sie versorgen rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr. Derzeit sind 27 Kinderarztpraxen unter- oder nicht besetzt. Das ist der größte Mangel unter Fachärzten im Land. In den vergangenen Jahren ist die Anzahl nicht besetzter Praxen deutlich angestiegen: Vor rund zehn Jahren waren nur drei Arztpraxen unbesetzt. Gleichzeitig ist jedoch der Bedarf an kindermedizinischer Betreuung gestiegen.
Ein Stadt-Land-Gefälle gibt es beim Kinderarztmangel nicht. Derzeit werden die meisten Kinderärzte in den Kreisen Biberach, Pforzheim und Calw gesucht. Statistisch gibt es momentan in Heidelberg am meisten Kinderärzte pro Kind.
Insgesamt arbeiten heute mehr Mediziner für Kinder und Jugendliche. Insgesamt arbeiten sie aber nicht mehr Stunden als früher, weshalb die gestiegenen Anforderungen in der Kinder- und Jugendmedizin nicht abgefedert werden können.
Welche Lösungsansätze gibt es?
Als mittelfristige Lösung müsste die Weiterbildung zum Kinderarzt mehr gefördert werden, sagt Till Reckert, Sprecher des Landesverbands der Kinderärzte Baden-Württemberg. Damit man Kinderarzt oder -ärztin werden kann, muss erst eine fünfjährige Facharztausbildung in einer Kinderarztpraxis absolviert werden. Für diese Facharztausbildung gebe es zu wenige Plätze. Langfristig müsse es generell deutlich mehr Medizinstudienplätze geben, so Reckert. Im Praxisalltag müssten Tätigkeiten priorisiert und festgelegt werden, was wirklich sinnvoll ist und was nicht, so Reckert weiter.