Ein Drittel aller Menschen in Baden-Württemberg hat eine Einwanderungsgeschichte. Deshalb stellte Anna-Lisa Müller vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld beim SWR Medienforum Migration auch klar: "Deutschland ist eine Migrationsgesellschaft." Und das bedeute: Alle Menschen sind Teil dieser Gesellschaft und kommen irgendwie mit Migration in Kontakt und sei es nur über das Essen oder die Musik.
Das ist eigentlich ein alter Hut: Bundesweit haben mehr als ein Viertel der Menschen eine Einwanderungsgeschichte - in Baden-Württembergs Landeshauptstadt Stuttgart ist es sogar die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner. Beim ersten Plenum des 18. SWR Medienforums Migration am Dienstag in Stuttgart waren sich die Diskutierenden aber einig, dass Räume und Möglichkeiten fehlen, damit alle Menschen besser zusammenkommen und die Zukunft der Gesellschaft gleichberechtigt gestalten können. Wie es trotz dieser schwierigen Situation doch gelingen kann, sich gesellschaftlich zu engagieren haben beim Medienforum mehrere Menschen mit Migrationshintergrund berichtet.
Medienforum Migration: "Schöne Kindheit in Stuttgart darf nicht Glückssache sein"
Die Stuttgarterin Fatimazahra Idkhafif studiert Jura und engagiert sich im Internationalen Ausschuss der Stadt und als sogennannte Respektlotsin. Dabei geht sie in der Stadt auf Menschen zu und fragt sie unter anderem, ob sie sich in Stuttgart respektiert fühlen und was sich ändern müsste: "Da höre ich ganz oft, dass gerade Jugendliche mehr Räume und Angebote brauchen, die sie betreffen, die auch nichts kosten. Mir ist es auch wichtig, Orte zu schaffen, wo alle Generationen zusammenkommen."
Alle Orte müssten für alle da sein. Sie selbst hatte eine tolle Kindheit, weil ihre Lehrkräfte, die Trainerinnen und Trainer im Sportverein, sie gefördert haben. Aber viele Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte machten diese Erfahrung nicht. Eine schöne Kindheit in Stuttgart dürfe keine Glückssache sein. Vor allem Vorbilder und Förderung sei dabei enorm wichtig.
Migrationsforscherin im Interview Soziale Kontakte sind unerlässlich für Integration
Bund und Länder stritten auf dem Flüchtlingsgipfel in Berlin über die Finanzierung. Migrationsforscherin Kosyakova sagte was den Menschen hilft:
Mehr Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte für die Politik gewinnen
Student Mehmet Ildes sitzt seit er 14 ist im Jugendgemeinderat der Stadt Stuttgart. Seine kurdischen Eltern kamen aus der Türkei. Als er elf Jahre war starb der Vater und die Mutter war alleinerziehend, die Familie lebte im Sozialbau. Als er seine Mutter fragte, warum sie an der prekären Situation nichts ändere, antwortete sie: "Wir sind nicht so wie die. Wir können nichts verändern. Da wusste ich, das will ich nicht akzeptieren."
Und jetzt will er auch andere junge Menschen mit Migrationsgeschichte für die Politik gewinnen - mit seinem Verein Local Diversity. Dazu wollen er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter unter anderem Workshops in Schulen geben: "Denn der Politikunterricht ist oft nicht gut - vor allem nicht an Haupt- und Realschulen. Wir lernen, es gibt den Bundestag und den Landtag, aber nicht, was das mit uns zu tun hat. Wir müssen den Leuten zeigen, dass sie sich beteiligen können und ihr Engagement etwas bringt." Als Beispiel nannte er die Stuttgarter Nachtbusse, die auf Initiative des Jugendgemeinderats eingeführt wurden. "Da habe ich nach dem Feiern all meinen Freunden erzählt, die Nachtbusse gibt es wegen uns und da haben einige von ihnen gemerkt: Engagement bringt ja was."
Mehr über das Engagement von Fatimazahra Idkhafif und Mehmet Ildes im Podcast von SWR Aktuell Mondial zum Nachhören im Audio:
Menschen müssen das Gefühl haben, sich einbringen zu können
Der Bezirksvorsteher des Stuttgarter Stadtteils Zuffenhausen und studierte Stadtplaner Saliou Gueye erläuterte, was er im Stadtteil für mehr Teilhabe tut: "Wir reden immer von Integration. Bei uns in Zuffenhausen haben 55 Prozent Migrationsgeschichte, in Rot sogar 60 Prozent. Da stellt sich irgendwann die Frage, wer hier eigentlich wen integriert." Um die Hürden zu senken hat Gueye ein Migrationsforum ins Leben gerufen. Dort sitzen Menschen aus den verschiedenen Communities, die den Stadtteil mitgestalten und das dann auch nach innen weitertragen. Junge Menschen müssten das Gefühl haben, dass sie hier gut leben und sich einbringen können, unabhängig vom Hintergrund, sagt er.
Angebote für Teilhabe müssen bei Menschen auch ankommen
Wie Menschen mit Migrationsgeschichte mehr Teilhabe an der Gesellschaft haben können, beschäftigt auch die Politik in Baden-Württemberg. Die Leiterin der Abteilung Integration im Sozialministerium des Landes, Birgit Locher-Finke sagte beim Medienforum, Teilhabe sei kein Selbstläufer: "Es reicht nicht, zu sagen: Ihr gehört dazu. Zugehörigkeit muss erlebt werden." Und umgekehrt müsse man auch Erfahrungen schaffen. In Thüringen sei zum Beispiel die AfD besonders stark in Gegenden, wo kaum Geflüchtete oder Menschen mit Einwanderungsgeschichte leben. Es ginge auch darum, Menschen mit Einwanderungsgeschichte für soziales aber auch politisches Engagement zu gewinnen und das gehe am ehesten über Dinge, die sie direkt treffen - wie beispielsweise eine mögliche neue Halfpipe im Stadtteil.
Es gebe auch vom Land viele Programme, die Teilhabe fördern, aber die Menschen wüssten oft nichts davon, so Locher Finke. Dass die Möglichkeit zur Teilhabe bei den Menschen ankommen muss, war für alle Diskussionsteilnehmenden klar. SWR-Landessendedirektorin Stefanie Schneider sagte, dass auch das Programm des SWR noch vielfältiger werden müsse und das Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht immer nur in Zusammenhang mit dem Thema abgebildet werden dürfen. Fatimazahra Idkhafif ergänzte: Medien und auch Vereine und Organisationen müssten da hingehen wo junge Menschen sind und sie auch dort ansprechen und ihnen Orte geben, wo sie sich sicher und wohl fühlen.
Besonderer Fokus auf Frauen mit Migrationsgeschichte
Der zweite Teil des Medienforums Migration stand unter dem Motto "Migration ist weiblich". In zwei Diskussionsrunden schilderten Frauen mit Migrationsgeschichte beziehungsweise Fluchterfahrung unter anderem ihre Erfahrungen mit den deutschen Behörden, aber auch mit dem Umstand, oft als anders wahrgenommen zu werden. Ein Satz viel dabei so oder so ähnlich immer wieder: "Wir müssen endlich dahin kommen, uns nicht immer über das Wir und Die zu definieren, sondern zu einem gemeinsamen WIR zu finden." Den Abschluss bildete eine Lesung der ukrainischen Schriftstellerin und Stipendiatin des Writers in Exile-Programms des PEN-Zentrums Zhenia Berezhna.
Welche Rolle spielen Angebote zur Teilhabe für junge Menschen mit Migrationsgeschichte und ganz speziell für Frauen? Mehr dazu im Podcast von SWR Aktuell Mondial zum Nachhören im Audio: