Militärisch gilt die IS-Terrormiliz als besiegt, doch Angehörige, deren Kinder zum IS gingen, leiden noch heute unter den Folgen. Ein Rentner aus Baden-Württemberg möchte seinen Sohn, sein Enkelkind und die Schwiegertochter nach Deutschland holen. Der SWR verfolgt die Geschichte des Mannes seit mehreren Jahren.
Als Presse-Fotograf ist Werner P., der in der Nähe von Ravensburg lebt, viel herumgekommen in der Welt: 1991 hatte er im Norden des Irak im Kurdengebiet für eine Hilfsorganisation fotografiert. Jetzt ist er 74 Jahre alt. Und statt seinen Ruhestand zu genießen, richten sich seine Blicke wieder Richtung Naher Osten: Im Nordosten Syriens, unweit der Grenze zum Nordirak, sitzt Werner P.s Sohn Dirk seit fünf Jahren in einem Gefängnis der kurdischen Milizen.
In Deutschland radikalisiert - beim IS aktiv
Dirk P. hatte sich in Deutschland in islamistischen Kreisen radikalisiert, bewegte sich unter anderem in einer Moschee in Pforzheim, wo salafistische Prediger auftraten. Nach seinem Umzug nach Nordrhein-Westfalen reiste er schließlich 2015 zur Terrormiliz IS. 2017 soll er sich kurdischen Milizen ergeben haben. Seitdem sitzt er im Gefängnis. "Ich tröste mich immer damit, dass ich sage, selbst gewählt. Aber wir müssen es ausbaden," sagt Werner P. in der Dokumentation "Albtraum Dschihad-Werner, Dirk und der IS", die auf dem Youtube-Kanal "SWR Doku" zu sehen ist.
Petition in Deutschland bislang erfolglos
Werner P. und seine Frau versuchen seit fünf Jahren, Druck auf die Politik auszuüben, damit ihr Sohn zurück nach Deutschland kann. Doch eine Petition an den Bundestag und etliche Schreiben an Behörden haben bisher nichts gebracht. Während die Bundesregierung im Rahmen von humanitären Rettungsaktionen bisher 27 ehemalige deutsche IS-Anhängerinnen und deren Kinder aus Lagern in Nordsyrien zurück nach Deutschland geflogen hat, heißt es zu den noch mehrere Dutzend deutschen Männern in Gefängnissen: Es gebe keine konsularische Betreuung für Deutsche in Nordsyrien.
Nur Prothesen gebaut?
Werner P. sagt, sein Sohn müsse für seine Reise zum IS geradestehen. Die Terrororganisation hat in Syrien und anderswo unbeschreibliche Gräueltaten begangen. Wie gefährlich also wäre Dirk P., käme er zurück nach Deutschland? Er selbst hat in Interviews in Nordsyrien mit deutschen Journalisten zugegeben, eine Kampfausbildung absolviert zu haben, er habe jedoch nie auf einen Menschen geschossen. Stattdessen habe er als gelernter Orthopädie-Schumacher Prothesen gebaut. "Ich habe zwischen acht und zwölf Prothesen im Monat gebaut. Ich war im Kampf nicht involviert. Ich habe meine Arbeit gemacht und bin nach Hause gegangen, zum Markt und wieder zurück," sagt Dirk P.
Überprüfen lässt sich das kaum. In einem IS-Dokument, das dem SWR vorliegt, heißt es, Dirk P. habe im Gesundheitsbereich gearbeitet. Kurdische Milizen gaben an, Dirk P. sei in Gräueltaten involviert gewesen, ohne allerdings Details zu nennen. Werner P. glaubt seinem Sohn. Dieser habe sich schon in früheren Jahren vor der Bundeswehr gedrückt: "Er will nur helfen, das glaube ich ihm, dass er sich da von den aggressiven Leuten distanziert, dass er nur die Prothesen gemacht hat. Er neigt nicht zum Extremismus. Der hat viel zu viel Schiss."
Vater: In Deutschland gerechter Strafe zuführen
Werner P. findet, es sei besser, ehemalige deutsche IS-Männer wie seinen Sohn geordnet nach Deutschland zurückzuholen und dort ihrer gerechten Strafe zuzuführen, statt sie in Nordsyrien jahrelang ihrem Schicksal zu überlassen: "Einige haben sich vielleicht wieder re-radikalisiert. Und man arbeitet dem IS in die Hände. Das finde ich nicht gut," sagt Werner P. - inzwischen übrigens eine mehrfach geäußerte Meinung unter Politikern genauso wie unter Sicherheitsexperten. So plädierte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Filiz Polat schon 2019 dafür, islamistischen Kämpfern nicht die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte Guido Steinberg von der "Stiftung Wissenschaft und Politik" argumentiert, mutmaßliche Terroristen könne man trotz aller Schwächen der deutschen Sicherheitsarchitektur in Deutschland besser unter Beobachtung halten als in Ländern wie Syrien.
Großeltern möchten Enkelkind nach Deutschland holen
2020 hat sich Dirk P. in einem Aufklärungsvideo der Organisation "International Center for the Study of Violent Extremism (ICSVE)" vom IS distanziert. Zuletzt habe ihm das Internationale Rote Kreuz vor einem Jahr mitgeteilt, dass sein Sohn noch lebe, sagt Werner P., der zunehmend frustriert ist: "Es ist entsetzlich, weil fünf Jahre eine verdammt lange Zeit sind. Und unsere Politiker, die können sich weiter ausruhen und können weiter sagen: Geht uns nichts an!"
Immerhin gibt es an anderer Stelle Bewegung: Dirk P. hatte in Syrien geheiratet. Aus der Beziehung mit einer Syrerin ging ein Sohn hervor, der inzwischen sechs Jahre alt ist. In einer langen Odyssee haben es Sohn und Kindsmutter in die Türkei geschafft. Werner P. hofft, dass die beiden bald nach Deutschland kommen können. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht: Ein DNA-Gutachten hat anhand von Speichelproben die Verwandtschaft des Jungen mit Werner P. bestätigt. Auf dieser Grundlage hat inzwischen ein Familiengericht festgestellt, dass der Junge der Sohn des in Nordsyrien inhaftierten Dirk P. ist, somit also deutscher Abstammung.
Vorbereitungen für ein Leben in Deutschland
Werner P. sagt, er habe bereits viel Geld investiert, um seinen Enkel und dessen Mutter in der Türkei zu unterstützen. Er hat Vorkehrungen getroffen, um die beiden bei sich zu Hause aufzunehmen. Mit Hilfe von WhatsApp und Google Translator hält er regelmäßig Kontakt zu seiner syrischen Schwiegertochter. Angst davor, eine wildfremde Frau bei sich aufzunehmen, die zudem im IS-Gebiet lebte, habe er nicht, sagt Werner P.: "Ich glaube nicht, dass sie wirklich Dschihadist war. Ich glaube, ich kann sie wirklich einschätzen. Sie möchte das Beste für sich und ihr Kind und die Möglichkeiten sind hier gegeben."
Der Rentner hofft, dass sein Enkel möglichst bald in Deutschland zur Schule gehen kann. Noch allerdings haben weder er noch dessen Mutter Papiere für die Einreise nach Deutschland. Werner P. muss sich weiter in Geduld üben.