Eine Frau macht einen Corona Selbsttest.

Rückblick und Ausblick

Wie gefährlich ist die Corona-Lage im Herbst 2022 in Baden-Württemberg?

Stand
Autor/in
Jakob Fandrey
SWR-Redakteur Jakob Fandrey

Während aus der Landesregierung bereits Begriffe wie "Endemie" und "Team Liberalität" fallen, zeigen die Statistiken den Beginn der Herbstwelle. Wie sieht die Corona-Lage tatsächlich aus? Eine Analyse.

Entspannung auf der einen - Anspannung auf der anderen Seite: Der Corona-Herbst 2022 löst bei den Menschen in Baden-Württemberg ganz unterschiedliche Emotionen aus. Maskenloses Feiern in vollen Festzelten, ein Ministerpräsident, der sich vom "Team Vorsicht" losgesagt hat und teilweise stark steigende Zahlen rund um Covid-19 lösen unterschiedliche Gefühle bei vielen aus. So ist die aktuelle Lage im Corona-Herbst 2022.

Rückblick: Der Corona-Sommer 2022

Sommer, Sonne, kaum Maßnahmen: So haben die allermeisten Menschen in Baden-Württemberg den Sommer 2022 verbracht. Mit ganz wenigen Ausnahmen war das Tragen einer Maske auf freiwilliger Basis beschränkt, Zugangsbeschränkungen gab es so gut wie gar nicht. Doch das Virus selbst breitete sich über den Sommer immer weiter aus, wenn auch im Vergleich zu den beiden Vorjahren mit deutlich ungefährlicheren Virus-Varianten.

Dennoch zeigen die Auswertungen des Landesgesundheitsamts (LGA), die das baden-württembergische Sozialministerium auf SWR-Anfrage erhoben hat, eine deutliche Zunahme an absoluten Covid-19-Todesfällen in Baden-Württemberg im Sommer 2022. Im Zeitraum von Mai bis August starben in diesem Jahr demnach 845 Menschen an Covid-19, im gleichen Zeitraum 2021 waren es 537, 2020 lediglich 167.

Eine Einschätzung über die Zunahme der absoluten Todesfälle gab das Ministerium nicht ab. Allerdings würden die Statistiken zeigen, dass die "Sterblichkeit", also der Anteil von Covid-19-Todesfällen an den insgesamt gemeldeten Fällen, im Sommer 2022 (0,09 Prozent) deutlich geringer sei als in den beiden Vorjahren (2020: 1,66 Prozent, 2021: 0,65 Prozent) , so ein Sprecher. Zudem habe es in den drei Sommern seit Pandemiebeginn nicht immer eine Infektionswelle wie im Sommer 2022 gegeben.

Fast 900.000 gemeldete Corona-Fälle über den Sommer - hohe Dunkelziffer

Noch deutlicher wird es bei den gemeldeten Neuinfektionen: Auch aufgrund der deutlich ansteckenderen Omikron-Variante, die in den vorherigen Sommern noch keine Rolle in Baden-Württemberg spielte, schnellten die Zahlen nach oben. Zwischen Mai und August 2022 wurden laut LGA-Angaben fast 900.000 Fälle gemeldet. 2021 waren es dagegen nur knapp 82.000, im Sommer 2020 lediglich 10.000.

Aufgrund der vom Land geänderten Strategien beim Testen und Erfassen von Positiv-Fällen wurde auch die Corona-Dunkelziffer 2022 deutlich größer. So ist davon auszugehen, dass sich noch deutlich mehr Menschen über den Sommer mit dem Coronavirus infizierten, dies aber gar nicht offiziell erfasst wurde. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geht davon aus, dass man deutschlandweit insgesamt dreimal so viele Fälle wie in der ausgewiesenen Statistik habe. Auch das Robert Koch-Institut (RKI) schätzt die Situation ähnlich ein. Aktuelle Daten zur Dunkelziffer gebe es keine, so eine Sprecherin auf SWR-Anfrage. Die Untererfassung schwanke auch abhängig vom Testverhalten, vom Testangebot und von der Krankheitsschwere.

Die Überlastung des Gesundheitswesens stellte sich oftmals nicht durch die hohe Zahl an zu behandelnden Corona-Patientinnen und -Patienten ein, sondern durch das ausgefallene weil infizierte Personal, bilanzierte Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG). Problematisch sei dies aber auch für die Folgen der vorherigen Corona-Wellen im Winter gewesen, da die Nachbehandlung, etwa abgesagter OP-Termine, aus dieser Zeit auch im Sommer oft nicht möglich gewesen sei, so Einwag auf SWR-Anfrage.

Aktuelle Lage rund um das Coronavirus in Baden-Württemberg

Nachdem die Sommer-Welle im August deutlich abgeebbt ist, haben die Behörden seit wenigen Tagen wieder eine signifikante Steigerung der relevanten Werte registriert. So hat sich die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz im Verlauf einer Woche zuletzt fast verdoppelt, auch die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen ist deutlich angestiegen.

Und auch die Lage an den Kliniken im Land wird wieder etwas angespannter: So nahmen im Wochenvergleich die Covid-Fälle auf den Normal- und Intensivstationen der Krankenhäuser zu, bewegen sich aber noch weit unter den Höchstwerten für Baden-Württemberg. Eine Überlastung der Kliniken im Land sei momentan nicht zu beobachten, betonte Einwag weiter.

Kaum mehr Impfungen gegen das Coronavirus in BW

Dagegen fast komplett eingeschlafen ist seit vielen Monaten der Impffortschritt im Land. Laut Impfdashboard des RKI hat mehr als jeder Vierte in Baden-Württemberg keine Grundimmunisierung, lediglich etwa 60 Prozent der Bevölkerung hat mindestens eine Booster-Impfung erhalten. Etwa jeder Zehnte über 60 Jahren ist überhaupt nicht gegen das Coronavirus geimpft. Im Vergleich der Bundesländer ist Baden-Württemberg damit im hinteren Drittel des Rankings zu finden - und dies bereits seit vielen Monaten.

Mitte September hatte Baden-Württemberg ein neues Buchungsportal für Impftermine gestartet. Rund 10.000 Impftermine stünden pro Woche bereit, so Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne). Inzwischen sind auch mehrere an das Virus angepasste Corona-Impfstoffe verfügbar. Von Moderna sowie von BioNTech/Pfizer gibt es einen an die Virusvariante BA.1 ausgerichteten Impfstoff. Seit kurzem ist zudem ein Impfstoff von BioNTech/Pfizer verfügbar, der speziell an die derzeit kursierenden Virusvarianten BA.4 und BA.5 angepasst wurde.

So schätzen Experten die Corona-Lage zum Jahresende 2022 ein

Mit seiner Aussage, Baden-Württemberg stehe im "Übergang von der Pandemie zur Endemie" hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vor wenigen Wochen eine neue Marschrichtung vorgegeben. Die Entwicklung bedeute für ihn, dass er "vom 'Team Vorsicht' ins 'Team Liberalisierung'" wechseln könne, hatte er betont. Zuvor war der 74-Jährige immer wieder als Mahner aufgefallen und hatte den Bund für dessen Corona-Politik deutlich kritisiert.

Mehr zum Strategiewechsel Kretschmanns und zu den Hintergründen finden Sie hier:

Im Interview mit dem SWR hatte der Virologe Hans-Georg Kräusslich vom Heidelberger Universitätsklinikum vor rund zwei Wochen in ein ähnliches Horn geblasen. "Die schwere Krankheitslast, die wir in den letzten Jahren durch die Pandemie erlebt haben, ist nicht mehr zu befürchten, sofern wir bei den aktuellen Varianten bleiben", so Kräusslich. Zwar sei das Risiko, an Corona zu versterben, für den vorerkrankten und alten Menschen, der keinen vernünftigen Immunschutz habe, immer noch gegeben. "Aber wir sollen nicht dramatisieren. Wir sind in einer völlig anderen Situation als in den letzten beiden Jahren."

Der Heidelberger Virologe Marco Binder vom Deutschen Krebsforschungszentrum ist mit Prognosen über die kommenden Monate vorsichtig. Die Gefahr, dass durch neue Virus-Varianten auch die Todeszahlen wieder deutlich steigen, bezeichnete er im SWR-Interview als sehr gering.

Schwierige Prognose für Corona-Herbst 2022

Für den Hauptgeschäftsführer der BWKG, Matthias Einwag, ist ein Blick in die Zukunft ebenfalls sehr schwierig. "Mit Corona umzugehen, ohne es zu schnell auf die leichte Schulter zu nehmen, das ist die Aufgabe", so seine Einschätzung gegenüber dem SWR. So könnte etwa ein erneuter Ausfall des Personals in den Kliniken die Lage verschärfen, wenn es in den kommenden Wochen zeitgleich wieder mehr Klinikeinweisungen gebe. Allerdings hätten die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen in der Vergangenheit damit gelernt, mit dem Virus umzugehen, so gebe es kaum noch Ausbrüche in den Einrichtungen.

In den Städten und Gemeinden laufen die Vorbereitungen auf den Corona-Herbst ebenfalls. So habe man etwa im Hohenlohekreis alle Eventualitäten im Hinterkopf und könne beispielsweise zügig die Kapazitäten hochfahren, etwa um die Kontaktnachverfolgung bei Infektionsfällen wieder betreiben zu können. "Wir kennen uns untereinander mittlerweile sehr gut, sodass wir, je nachdem wie sich eine Lage entwickelt, wissen, an wen wir uns wenden müssen", sagte der Gesundheitsdezernent Mike Weise im SWR.

Geringere Zahl der schweren Corona-Verläufe

Was im Herbst 2022 deutlich anders werden könnte als in den beiden Jahren zuvor: das Immunsystem der Menschen. Ein großer Teil der Bevölkerung hat sich drei, zum Teil viermal impfen lassen. Dazu kommt bei vielen eine Infektion mit einer Omikron-Variante im Frühjahr und Sommer. Hausärzte berichten zwar von mehr Corona-Patientinnen und -Patienten. Doch die Zahl der schweren Verläufe sei sehr niedrig.

Allerdings nehme die Schutzwirkung der Impfung oder überstandenen Infektion mit der Zeit ab, so die Immunologin Martina Prelog von der Universität Würzburg. Vor allem die Antikörper auf den Schleimhäuten, etwa in der Nase, gingen zurück. Daher könne man sich auch nach mehrmaliger Impfung nach einigen Monaten wieder anstecken. Jedoch werde durch die Impfung das langfristige Immungedächtnis gestärkt, sodass die meisten mehrfach geimpften Menschen nicht mehr schwer erkrankten. Vor einer (harmlosen) Ansteckung mit Covid-19 schütze eine regelmäßige Impfung aber nicht.

Lauterbach zuversichtlich: "Werden Corona-Welle im Griff haben"

Und auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach zeigte sich, trotz Beginn der Herbst-Welle, zuletzt zuversichtlich. "Wir werden die Welle im Griff haben", sagte der SPD-Politiker. Deutschland sei besser vorbereitet als im vergangenen Herbst. RKI-Präsident Lothar Wieler äußerte sich bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Gesundheitsminister ähnlich. Er rief zur Wach- und Achtsamkeit auf, sagte aber auch, er habe "eigentlich keine riesige Sorge".

Es bleibe dabei, dass sich viele der Infektionen als nicht schwer verlaufend darstellten, betonte auch Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie. Er erwartet zwar wieder zunehmende Krankenhausbehandlungen und steigende Todesfallzahlen, "die vor allem bestimmte Gruppen betreffen werden". Eine Überlastung des Gesundheitssystems sieht er "eher nicht". Den aktuell starken Anstieg der Corona-Zahlen nannte der Epidemiologe "bedrohlich, aber nicht vergleichbar mit Zeiten, als wir als Bevölkerung noch weitgehend ungeschützt waren."

Die Folgen von Long Covid

Eine negative Folge der massiven Corona-Wellen schlägt sich bei zahlreichen Menschen in den langfristigen gesundheitlichen Folgen nieder. Seit Sommer 2021 unterstütze das Land eine von den medizinischen Fakultäten und Universitätskliniken in Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm gemeinsam durchgeführte Studie EPILOC, so das Wissenschaftsministerium auf SWR-Anfrage. Diese sei als eine der weltweit größten bevölkerungsbezogenen Studien ein wichtiger Baustein, um bessere Einschätzungen zu Long Covid treffen zu können.

Die Ergebnisse der ersten Phasen der Studien sollen schon bald wissenschaftlich veröffentlicht werden. Sie zeigen laut Ministerium, dass ein Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer angibt, auch sechs bis zwölf Monate nach einer akuten Infektion unter erheblichen Symptomen leiden, die Gesundheit wie Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen.

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Laut dem Institut Long Covid in Rostock leiden in Deutschland etwa drei Millionen Menschen darunter. Long Covid könne unbehandelt zur Erwerbsunfähigkeit führen. "Das können wir uns als Gesellschaft schlicht und einfach nicht leisten", betonte die Lungenfachärztin Jördis Frommhold.

Die baden-württembergische Landesregierung hatte Anfang August mitgeteilt, 13 Millionen Euro in die Erforschung, unter anderem von Long Covid, bereitstellen zu wollen. "Wir brauchen akut und dringend die Erkenntnisse der Wissenschaft inklusive neuer Technologien, um die Pandemie und ihre Auswirkungen zu bekämpfen", hatte die damalige Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) gesagt.

Long Covid: Studie zeigt wochenlangen Arbeitsausfall

Auch für die Wirtschaft wird der Faktor Long Covid immer bedeutender: So zeigte eine Studie der AOK, die im September veröffentlicht wurde, dass 3,8 Prozent der Versicherten, die wegen einer Covid-Erkrankung am Arbeitsplatz ausgefallen waren, an den Folgen einer Long-Covid-Symptomatik zu leiden hatten. Diese hätten fast sieben Wochen im Job gefehlt.

Detaillierte Auswertungen hätten allerdings große Unterschiede hinsichtlich der verschiedenen Virusvarianten gezeigt. So waren in der seit Frühjahr 2022 durch die Omikron-Variante geprägten Krankheitswelle nur 2,1 Prozent der Beschäftigten wegen Long Covid oder Post Covid krankgeschrieben, während es beim Vorherrschen der Delta-Variante 6,3 Prozent waren.

Wie es mit dem Coronavirus weitergehen könnte

Die Diskussion um gerechtfertigte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden wohl noch über das Jahr hinaus geführt werden. Während Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Einleitung der endemischen Phase kommen sieht und betonte, dass die Leute in dieser Phase "wieder selbst für sich verantwortlich" seien, stellte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ein Ende aller Corona-Maßnahmen für das nächste Frühjahr in Aussicht: "Wenn die Lage in den Krankenhäusern diesen Winter stabil bleibt, gehört Corona ab dem Frühjahr mit großer Wahrscheinlichkeit zum allgemeinen Lebensrisiko und die letzten Maßnahmen könnten auslaufen", sagte er der "Bild am Sonntag". Des Weiteren empfahl Buschmann den Bundesländern, die Quarantänepflicht für Infizierte nach eigenem Ermessen zu regeln.

An diesem Punkt hatte Baden-Württemberg, neben drei weiteren Bundesländern, zuletzt Druck auf den Bund ausgeübt und ein Ende der Isolationspflicht für Corona-Infizierte gefordert. "Wir sollten nach und nach in den Modus kommen, eine Corona-Infektionen wie eine andere Infektionskrankheit zu behandeln, bei der gilt: Wer krank ist, bleibt zu Hause", so Landesgesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne). Man müsse auf mehr Eigenverantwortung setzen und den Menschen nicht mehr fünf Tage eine Absonderungspflicht vorschreiben. Lauterbach hatte den Vorstoß zurückgewiesen.

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