Obwohl sie alle den Krieg auf SWR-Nachfrage verurteilen, machen auch Unternehmen aus Baden-Württemberg weiter in Russland Geschäfte.
Expertinnen und Experten der amerikanischen Elite-Universität Yale haben eine Liste mit Unternehmen erstellt, die zeigt, wer sich bis zu welchem Grad geschäftlich aus Russland zurückgezogen hat. Sie vergeben Schulnoten von eins (Rückzug) bis sechs (frei übersetzt: weitermachen wie bisher). Auf der Liste stehen auch die Namen einiger Unternehmen aus Baden-Württemberg: unter anderem der Automobilzulieferer und Elektronikhersteller Bosch, das Baustoffunternehmen Heidelberg Materials (früher Zement), der Baumaschinenhersteller Liebherr und die Zeppelin GmbH, die Baumaschinen vertreibt. Auch der Süßigkeitenhersteller Ritter Sport aus Waldenbuch (Kreis Böblingen) ist dort zu finden.
Der SWR hat knapp ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine exemplarisch bei diesen und weiteren Unternehmen nachgefragt, warum sie weiter in Russland tätig sind.
Ritter Sport in Russland: Wie weiter nach dem Shitstorm?
Bei Ritter Sport hat man bereits einen vollwertigen Shitstorm erlebt, weil die Unternehmensführung trotz des Krieges weiter in Russland verkaufen wollte. Im März 2022 kündigte sie nach anhaltend scharfer Kritik an, "jeglicher Gewinn aus dem laufenden Russland-Geschäft" werde für humanitäre Zwecke gespendet - bislang waren das laut Ritter Sport 1,51 Millionen Euro.
So berichtete SWR Aktuell im Fernsehen im März 2022 über den Fall:
Auf SWR-Nachfrage erklärt eine Unternehmenssprecherin, Ritter Sport werde auch weiterhin Schokolade nach Russland liefern und betreibe vor Ort eine Vertriebsgesellschaft. Produziert wird in Russland nicht. "Ein vollständiger Rückzug aus dem russischen Markt wäre die einfachere Entscheidung mit symbolischer Wirkung, hätte aber auch drastische Auswirkungen auf unser gesamtes Familienunternehmen", so die Sprecherin. Russland sei nach Deutschland der wichtigste Markt für Ritter Sport, würde das Unternehmen nicht mehr dorthin liefern, müsste es langjährige Mitarbeitende vor Ort entlassen und auch an den Produktionsstandorten in Österreich und Deutschland seien dadurch mindestens 150 Arbeitsplätze gefährdet.
Russland-Geschäft reduziert, aber nicht beendet
Unternehmen mit Russland-Geschäft seien in einer sehr schwierigen Situation, sagt der Tübinger Wirtschaftsprofessor Wilhelm Kohler. "Das ist eine Gratwanderung, die im Detail schwer zu machen ist." Im Kern stehe folgender Konflikt: Schadet der Rückzug eines Unternehmens der russischen Wirtschaft substanziell? Oder handelt es sich um einen symbolischen Akt, der eher dem eigenen Unternehmen und manchmal auch den Menschen vor Ort schadet? Dann steht laut Kohler die schwierige Entscheidung an, ob einem dieses Zeichen gegen den Krieg wichtiger sei als mögliche wirtschaftliche Schäden für das eigene Unternehmen.
Auf SWR-Anfrage schreibt ein Sprecher der Firmengruppe Liebherr, man verurteile die "durch nichts zu rechtfertigende russische Aggression gegen die Ukraine" und stehe hinter den Sanktionen. Liebherr habe etwa sein Neukundengeschäft in den Bereichen Aerospace, Verkehrstechnik und Mining "bis auf Weiteres vollständig eingestellt", das Servicegeschäft eingeschränkt und liefere keine Geräte und Ersatzteile mehr an sanktionierte Unternehmen. Das in Kirchdorf an der Iller (Kreis Biberach) gegründete Unternehmen (heute ist der Unternehmenssitz in der Schweiz) gehe über die Sanktionsmaßnahmen hinaus und habe "sämtliche Investitionen in Russland gestoppt".
Weiterhin beschäftigt Liebherr eigenen Angaben zufolge in Russland aber 1.900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter anderem in einem Produktionsstandort bei Dserschink in der Region Nischni Nowgorod rund 420 Kilometer östlich von Moskau. Die dort produzierten Teile dürfen wegen der EU-Importverbote derzeit nicht mehr an die Liebherr-Schwesterwerke ausgeliefert werden. Die Auswirkungen seien beträchtlich, weil "kurzfristig alternative Lieferquellen aufgebaut werden mussten".
"Nicht nur der Eintritt in einen ausländischen Markt ist langwierig und kostspielig - auch der Austritt kostet Unternehmen viel Geld", erklärt Wirtschaftsexperte Kohler. Ob ein Unternehmen diese Kosten in Kauf nehmen kann und will, hängt also auch von seiner Größe ab und davon, wie wichtig das Russland-Geschäft für den Umsatz insgesamt ist.
BW-Unternehmen in Russland: Fürsorgepflicht für Mitarbeitende?
Letztlich ist die Russland-Frage für Unternehmerinnen und Unternehmer keine rein wirtschaftliche, sondern mindestens auch eine politische Herausforderung.
Ein Liebherr-Sprecher schreibt dem SWR: "Auch wenn wir diesen Krieg und seine dramatischen Folgen für alle Betroffenen verurteilen, halten wir es unverändert für richtig, zwischen den Verantwortlichen dieses Krieges auf russischer Seite und den Bürgerinnen und Bürgern Russlands zu unterscheiden." Man sehe sich in einer "Fürsorgepflicht" gegenüber seinen russischen Mitarbeitenden.
Bei der Zeppelin GmbH mit juristischem Sitz in Friedrichshafen (Bodenseekreis) spricht man davon, einen "gefestigten Wertekompass" zu besitzen. Der sukzessive Rückzug aus Russland sei derzeit der "einzig gangbare Weg". Das Unternehmen unterstütze vor Ort "keinerlei strategische Schlüsselindustrien Russlands mehr". Nach und nach schließe man seine Niederlassungen, von knapp 1.400 russischen Beschäftigten habe knapp die Hälfte das Unternehmen bereits verlassen. Auch bei Zeppelin argumentiert man gegen einen kompletten Rückzug mit der Fürsorge für Mitarbeitende vor Ort: "Unsere russischen Mitarbeitenden gehören nicht nur zu Zeppelin, viele teilen unser westliches Werteverständnis und sind seit Beginn des Krieges den Repressalien der russischen Behörden ausgesetzt. Auch die Existenz, das finanzielle Überleben und die persönliche Unversehrtheit dieser Mitarbeitenden hängt von unseren Entscheidungen ab", so eine Sprecherin.
Kein Russland-Rückzug, aber auch keine neuen Investitionen
Heidelberg Materials (früher Zement) unterhält weiterhin drei Zementwerke in Russland und hat sich im Gegensatz zum Schweizer Konkurrenten, dem Baustoffkonzern Holcim, nicht von dort zurückgezogen. Vom SWR nach den Gründen gefragt, antwortet ein Unternehmenssprecher: "Heidelberg Materials verurteilt den Krieg gegen das ukrainische Volk auf das Schärfste" und man unterstütze die Sanktionen. Vor rund einem Jahr habe man alle Investitionen in Russland eingestellt, vor Ort betreibe man ein "rein lokales Geschäft in begrenztem Umfang und nur für den lokalen Bedarf".
Alle Geschäftstätigkeiten in Russland stünden in "vollem Einklang mit internationalen Gesetzen sowie mit internationalen Menschenrechtsstandards". Man habe sich außerdem intensiv für ukrainische Flüchtlinge eingesetzt und plane das insbesondere in den direkten Nachbarländern der Ukraine weiter zu tun, so Heidelberg Materials.
Wirtschaftsexpertin: Rückzug aus Russland-Geschäft immer schwieriger
Hella Engerer forscht am Deutschen Insitut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin unter anderem zur Entwicklung osteuropäischer Märkte. "Ob ausländische Unternehmen tatsächlich garantieren können, dass ihre in Russland produzierten Güter nur lokal verkauft und zivil genutzt werden, ist fraglich und schwer zu beurteilen" erklärt sie.
Vom Automobilzulieferer und Elektronikhersteller Bosch mit Sitz in Stuttgart heißt es, der Großteil des Geschäfts in Russland sei in Folge der Sanktionen seit Monaten unterbrochen oder zum Stillstand gekommen. Man erwarte weitere Einschränkungen bis hin zum "weitgehenden Auslaufen unserer geschäftlichen Aktivitäten in Russland" und arbeite an verschiedenen Optionen - darunter auch Verkäufe der Geschäftsbereiche in Russland.
Grundsätzlich sei zu beobachten, so DIW-Forscherin Engerer, dass es für Unternehmen zunehmend schwierig werde, sich geordnet aus dem Russland-Geschäft zurückzuziehen. Das gelte auch für den Verkauf von Geschäften oder Geschäftsanteilen, der gegebenenfalls mit hohen Verlusten einhergehe - so wie etwa bei der BASF-Tochter Wintershall Dea.
Hat der Russland-Rückzug von BW-Unternehmen einen Effekt?
Für Wirtschaftsexperte Wilhelm Kohler steht über alldem die Frage, ob die europäischen und amerikanischen Wirtschaftssanktionen (die EU-Wirtschaftssanktionen in einer Infografik) überhaupt den gewünschten Effekt erzielen: "Aus westlicher Sicht bräuchte es im günstigsten Fall ein Produkt, das, wenn es in Russland wegfiele, verheerende Folgen für die russische Wirtschaft hätte, bei dem wir aber wiederum gut auf den Handel in Russland verzichten könnten." Das sei in der Regel aber leider nicht so. Selbst wenn Produkte eines Unternehmens aus Baden-Württemberg in Russland wirklich fehlen sollten, könnten sie mit Produkten aus anderen Märkten ersetzt werden. Wenn auch mit vielleicht schlechterer Qualität und zu einem höheren Preis. "Wir alle leben in der Vorstellung, das vereinte Europa sei ein großer Player in der Welt", sagt Kohler. Wenn man sich die Zahlen im Welthandel aber ansehe, stelle man fest, "dass wir so wahnsinnig bedeutsam nicht sind".
Man dürfe also nicht zu viel erwarten, aber: "Ich würde es wiederum nicht so weit treiben, zu sagen, deshalb sollten Unternehmen auf den Rückzug aus dem Russland-Geschäft verzichten." Im Falle Russlands klar zu zeigen, dass man bereit sei, sich zurückzuziehen - auch auf Kosten des eigenen Geschäfts -, "das hat schon einen nachhaltigen Effekt", sagt Kohler.