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Selbstverletzung bei Jugendlichen – Warum Ritzen zur Sucht wird

Stand
Autor/in
Franziska Hochwald
Franziska Hochwald
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Jeder dritte Jugendliche in Deutschland hat sich schon mal selbst geritzt, geschlagen, verbrüht. Warum verletzen junge Menschen sich bewusst selbst und wie gelingt ihnen ein anderer Umgang mit Gefühlen?

Intensive Wahrnehmung negativer Gefühle und der Wunsch nach Kontrolle

Sie ritzen sich mit Fingernägeln, Rasierklingen oder Glasscherben. Sie fügen sich Prellungen zu, verbrennen sich oder schlagen mit dem Kopf gegen die Wand. Wenn junge Menschen ihrem Körper Schmerzen zufügen, nennt man das „Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten“ (NSSV).

Etwa jeder dritte Jugendliche hat sich schon einmal selbst verletzt: Mit diesen Zahlen liegt Deutschland im europäischen Vergleich auf einem der Spitzenplätze. Selbstverletzung kommt besonders häufig vor bei Jugendlichen, die ihre negativen Gefühle vergleichsweise intensiv wahrnehmen, so Paul Plener, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der MedUni Wien. Ein anderer Grund für Selbstverletzungen ist das Bedürfnis, überhaupt etwas zu fühlen und auch der Wunsch, über etwas im Leben die Kontrolle zu haben – und sei es nur über den eigenen Schmerz.

Auch wenn drei Viertel der Jugendlichen erst im Alter zwischen 13 und 15 Jahren damit beginnen, sich selbst zu verletzen, kann diese Form, mit emotionalem Druck umzugehen, bereits im Kindesalter anfangen. Der Wunsch, Aufmerksamkeit zu bekommen, wird allerdings von den wenigsten Jugendlichen formuliert. Im Gegenteil: Sie versuchen, ihre Wunden zu verstecken. Und für Eltern ist es oft schwierig, angemessen mit den Selbstverletzungen ihrer Kinder umzugehen.

Soziale Ansteckung über Blogs und Videos: Selbstverletzung auf Social Media

Darüber, warum die Zahlen in Deutschland so hoch sind, gibt es bislang noch keine Erkenntnisse. Die Forschung geht davon aus, dass es beim ersten Kontakt mit selbstverletzendem Verhalten so etwas wie eine soziale Ansteckung gibt durch Freundinnen oder Klassenkameraden. Auf Social Media gibt es zudem Apps, Blogs und YouTube-Videos, in denen sich die Jugendlichen über Selbstverletzung austauschen. Doch es gibt keine verlässlichen Daten, dass diese Social-Media-Kanäle das selbstverletzende Verhalten verstärken könnten.

Junger Mann mit Kopf gegen Wand gelehnt: Junge Männer begeben sich bisher seltener in Behandlung und verstecken ihr selbstverletzendes Verhalten, oder sind aggressiv gegen andere Personen als sich selbst
Junge Männer begeben sich bisher seltener in Behandlung und verstecken ihr selbstverletzendes Verhalten eher

Auf den ersten Blick scheint selbstverletzendes Verhalten vor allem bei Mädchen vorzukommen. Doch eine nähere Betrachtung zeigt, dass auch junge Männer in hohem Maße betroffen sind, so der Wiener Psychiater Paul Plener, und das in einem Geschlechterverhältnis von 40 zu 60. Junge Männer begeben sich jedoch seltener in Behandlung und verstecken ihr selbstverletzendes Verhalten. Oder sie sind aggressiv gegen andere Personen als sich selbst.

Emotionale Misshandlung: direkter Risikofaktor für Selbstverletzungen

Nicht immer sind es schwere traumatische Erfahrungen, die zu selbstverletzendem Verhalten führen. Bereits subtilere Formen von Gewalt können ausreichen, wie Paul Plener betont. Dazu gehört vor allem die emotionale Misshandlung von Kindern, die einen direkten Risikofaktor für selbstverletzendes Verhalten darstellt. Eine emotionale Misshandlung ist zum Beispiel das Herabwürdigen, das Nicht-Wahrnehmen von Gefühlslagen oder auch Vergleiche anstellen mit Geschwisterkindern, so Paul Plener.

Entsprechend häufig treten gleichzeitig zu selbstverletzendem Verhalten andere psychische Erkrankungen auf wie Depressionen oder Borderline-Störungen. Und auch wenn selbstverletzendes Verhalten in der Regel nicht als Selbstmordversuch zu werten ist, ist doch ein sehr großer Prozentsatz der sich selbst verletzenden Jugendlichen suizidgefährdet.

DBT: Skill-Box mit Chilischoten als Therapie gegen Selbstverletzung

Eine wirksame Form der Behandlung ist die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), die in den 1980er-Jahren für selbst- und fremdgefährdendes Verhalten und Borderline-Störungen entwickelt wurde. Sie verbindet verhaltenstherapeutische Ansätze mit asiatischen Meditationsformen. Die Psychologin Lea Schregle arbeitet damit mit ihren jugendlichen Patientinnen am Mannheimer Zentralinstitut im sogenannten Adoleszentenzentrum. Ihre Patientinnen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren kommen aus ganz Deutschland.

Auch im Haus Jella in Stuttgart wird mit den Methoden der Dialektischen Behavioralen Therapie gearbeitet. Die Therapeutinnen entwickeln hier mit ihren Patientinnen gemeinsam eine individuelle Skill-Box, also ein Kästchen, in dem sich Hilfsmittel gegen den Druck sich zu ritzen befinden und das die Jugendlichen überallhin mitnehmen können. In so einer Box befinden sich Chilischoten und Finalgon-Verbände, die eine brennendes Gefühl auf der Haut auslösen sowie Gummibänder und Igelbälle.

Bildgebende Verfahren zeigen Beruhigung des Gehirns durch Selbstverletzung

Mit diesen Hilfsmitteln können die Jugendlichen sich ablenken und einen Schmerzreiz setzen, ohne sich dabei zu verletzen. Zudem hilft ihnen die Skill-Box dabei, Selbstempathie zu entwickeln. Die Behandlung von selbstverletzendem Verhalten ist nicht ganz einfach, denn wenn Körper und Seele sich erst einmal an diese Form der Gefühlsbewältigung gewöhnt haben, kommt es häufig dazu, dass die Abstände immer kürzer und die Verletzungen immer tiefer werden.

Auch wenn traumatisierende Erfahrungen in der Vergangenheit der jungen Menschen fast immer zum Krankheitsbild gehören, nimmt die Forschung inzwischen auch zunehmend die Neurobiologie und hormonelle Zusammenhänge in den Blick. Durch neuere Forschungsmethoden kann der Mechanismus, mit dem Gefühle im Gehirn reguliert werden, auch bildlich dargestellt werden. Hier sieht man, dass bestimmte Regionen im Gehirn bei Menschen, die sich selbst verletzen, tatsächlich im Moment der Verletzung beruhigt werden.

Bildgebende Verfahren werden nicht nur als Diagnoseinstrument, sondern inzwischen auch für die Therapie eingesetzt. Im sogenannten Echtzeit-MRT gestützten Neurofeedback können Patienten durch bildgebende Verfahren direkt sehen, wie sie sich selbst regulieren. Diese Selbstwirksamkeit ist ein hilfreicher Nebeneffekt. Denn er stärkt das Gefühl der Jugendlichen, wieder Kontrolle über das zu bekommen, was zu ihnen und allein ihnen gehört: ihr eigener Körper und ihre eigenen Empfindungen.

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